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DOKUMENTATIONDeutsche oder sozialdemokratische Politik?

■ Die SPD vor den Problemen bei der Herstellung der inneren Einheit

Der Haussegen in der deutschen Ehe hängt vermutlich noch eine Weile schief. Daran ändert kein Parlament, keine Regierung und keine Partei etwas, auch nicht die SPD. Sind die Konflikte unvermeidbar, so ist die wichtigste Aufgabe der Politik, sich dafür einzusetzen, daß sie friedlich und verständnisvoll ausgetragen werden.

Der Spagat zwischen Ost und West

Die Sozialdemokratie hat die einzigartige und herausgehobene Rolle, in dem langwierigen und beschwerlichen Prozeß der Angleichung der Lebensverhältnisse in Deutschland darauf zu achten, daß die soziale Gerechtigkeit gewahrt und Härte vermieden wird, weil sonst die objektiven Interessengegensätze kaum zu schlichten sein werden. Sie wird dieser Rolle, die keine andere Partei übernehmen kann, am ehesten dann gerecht werden, wenn es ihr gelingt, im Osten wie im Westen dafür Unterstützung zu gewinnen, daß der Neuaufbau der Wirtschaft in der ehemaligen DDR sich nicht nach den überholten Politikmustern der Wachstumswirtschaft, sondern entsprechend dem Konzept eines sozial- ökologischen Wirtschaftens vollzieht. Das erfordert geduldige und beharrliche Überzeugungsarbeit, die vor allem die Erkenntnis vermitteln muß, daß ein Wohlstand, der nicht nur rein ökonomisch nach der überkommenen verengten Sichtweise, sondern auch sozial und ökologisch definiert ist, ein sinnerfüllteres und besseres Leben bedeutet, als es im Westen bisher praktiziert wurde. Glaubwürdig und aussichtsreich ist eine Politik, die den Neuaufbau der Wirtschaft in der ehemaligen DDR auf dieser Grundlage beginnen will, nur dann, wenn gleichzeitig mit dem ökologischen Umbau der Industriegesellschaft im Westen begonnen wird. Selbstverständlich können die Parteien nicht die alleinigen Akteure sein. Wahrscheinlich sind die Denkanstrengungen im geistig-kulturellen Bereich am wichtigsten, denn sie werden ihrerseits Auswirkungen auf die individuelle oder gemeinschaftliche unternehmerische Initiative haben. Die „Abwicklung“ kultureller Einrichtungen in den neuen Ländern ist deshalb eine große Torheit, die scheinbar Geld spart, aber auf lange Frist die Gesellschaft sehr teuer zu stehen kommen wird. Die SPD, sofern sie sich nicht auf das bloße Moderieren der inkongruenten Interessen in Ost und West und den damit verbundenen Geldtransfer beschränken will, könnte das Vertrauen der Menschen in sie und zugleich das Selbstvertrauen der Menschen in sich selbst stärken, wenn sie entschlossen die Zukunftsvision einer weltoffenen, sozial- und umweltverträglichen Gesellschaft in das Zentrum der politischen Debatte rückt.

Gefahr deutscher Selbstbezüglichkeit

Es hat den Anschein, daß die Selbstbezogenheit der Deutschen in der jüngsten Zeit eher wieder zugenommen hat. Mit Erstaunen verzeichnen ausländische Beobachter, daß die Deutschen, in ihrer ungeachtet aller großen Schwierigkeiten vergleichsweise noch sehr komfortablen Situation, sich im allerschlimmsten Elend wähnen, obwohl niemand verhungert und auch die sonstigen Unbilden sich in Grenzen halten. Das fördert die Tendenz, Politik vornehmlich als deutsche Hausaufgabe zu sehen. Die SPD sollte solchen Neigungen widerstehen, auch wenn ihr manche einreden wollen, daß sie sonst die Publikumsgunst einbüßen würde. Oskar Lafontaine und Peter Glotz warnen mit Recht davor, uns nicht in dem wiedergewonnenen deutschen Nationalstaat einzubunkern. Vor Machtambitionen und Muskelspielereien in Richtung Osten sollten wir uns hüten. Ein Abdriften aus dem westlichen Bündnis wäre ein ebenso verhängnisvoller Fehler wie ein Abschotten gegenüber dem Osten, nicht zuletzt angesichts der amorphen Situation im Osten und Südosten Europas. Deutschland wird logischerweise eine Schleuse für die ost- und mitteleuropäischen Staaten bei ihrer Annäherung an die Europäische Gemeinschaft sein. Um so dringlicher ist es, daß den ost- und mitteleuropäischen Staaten eine klare Perspektive für die Aufnahme in die EG mit entsprechenden Übergangsregelungen in Form von Assoziierungen oder ähnlichem angeboten wird.

Demokratie braucht eine starke Opposition

Die Deutschen sind mit Vorliebe über den Parteienstreit erhaben. Besonders zu Zeiten wirklicher oder eingebildeter Notlagen überkommt sie leicht das wilhelminische Grundgefühl, und sie wollen nur noch Deutsche und keine Parteien mehr kennen. So geschieht es auch heute. Wenn schon keine große Koalition, dann wenigstens ein „großer Konsens“. Leider ist vor allem im Osten die Meinung verbreitet, es müßten nun alle an einem Strang ziehen, der Parteienhader müsse überwunden werden. Seltsamerweise wird diese Ansicht sogar als vermeintlich besseres Demokratieverständnis geltend gemacht. Ja, es unterläuft schon einmal der Satz, die im Osten könnten vom Westen lernen, wie die Wirtschaft richtig auszugestalten sei, der Osten müsse aber dem Westen umgekehrt die wahre Demokratie beibringen. Die Demokratie im Westen hat nun gewiß Mängel und ist verbesserungsfähig. Im Osten jedoch hat es bisher überhaupt keine Demokratie gegeben. Bei aller Bewunderung und allem Respekt für die friedliche Revolution in der ehemaligen DDR werden wir uns deshalb eingestehen müssen, daß Demokratie in den neuen Ländern erst gelernt und entwickelt werden muß. Das braucht seine Zeit. Es braucht Geduld. Es braucht aber auch Festigkeit gegenüber dem aus autoritärer Zeit vererbten Vorurteil, daß im Grunde nur die Regierung in der Politik bestimmt, während das Parlament und erst recht die Opposition mehr oder weniger überflüssige und nutzlose Störenfriede seien. Infolgedessen wurde es von der Mehrheit in den neuen Bundesländern mit Wohlgefallen aufgenommen, daß Bundesregierung und Opposition sogenannte Arbeitsgruppen gebildet haben. Zur Demokratie gehört aber bekanntlich, daß die Verantwortung zwischen Regierung und Opposition nicht verwischt wird. Die Demokratie gebietet nicht zuletzt, daß die parlamentarische Arbeit für die Öffentlichkeit transparent bleibt und nicht in obskure Gremien ausgelagert wird. Andernfalls verliert das Parlament Ansehen und Bedeutung in der Öffentlichkeit, denn es entsteht der Eindruck, daß die wirklich substantiellen Angelegenheiten nicht mehr im Plenum oder in den Ausschüssen des Bundestages, sondern hinter verschlossenen Türen in den „Arbeitsgruppen“ verhandelt werden. Die öffentliche Debatte im Parlament ist aber der Wesenskern der Demokratie, denn in ihr erfolgt die gesellschaftliche Kommunikation und die Artikulation der Konflikte, was unabdingbare Voraussetzung für Konsens oder Kompromiß ist. Die SPD, in der ewigen Sorge vor dem Vorwurf der „vaterlandslosen Gesellen“, sollte sich in Zukunft auf solche Techtelmechtel mit der Bundesregierung nicht einlassen. Eine konstruktive Opposition verleiht ein deutlicheres Profil als die Einquartierung in irgendwelchen Nebenzimmern der Regierung! Abgesehen davon, daß kaum plausibel ist, daß die Opposition ausgerechnet mit einer Regierung vertrauensvoll zusammenarbeiten will, von der sie landauf, landab zu Recht behauptet, sie habe sich ihr Mandat erlogen. Otto Schily

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