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DOKUMENTATIONDie Opfer und die leeren Kassen

■ Erich Loest, der in der DDR selbst mehrere Jahre hinter Gittern saß, plädiert für die Bestrafung der Täter und für Entschädigung der Opfer

Zeitgeschichte, so las ich, sei Geschichte, die noch qualmt. Wo Qualm aufsteigt, ist meist Gestank nicht weit. In den letzten Monaten haben sich deutsche Politiker vor allem mit sich selbst, nämlich mit dem Ort ihres Wirkens beschäftigt. Das werden sie noch lange tun müssen. Umzugskosten bedrohen sie. Wer kauft den Amerikanern und den vielen anderen ihre Botschaften ab? Grau drückt die Zukunft auf Bonn. Die kleinste denkbare Geldeinheit ist die Milliarde.

Und nun qualmt und stinkt es immer wieder von Osten her, Schwelbrände sind nicht gelöscht. Wir müssen die Justizvergangenheit der DDR und der sowjetischen Schnellgerichte und Internierungswillkür benennen, wir müssen diesem Stück schlimmer Zeitgeschichte den letzten Akt anfügen. Die Regierungen Modrow und de Maizière mit diesem Diestel haben sich mehr um Täterpensionen als um Wiedergutmachung gegenüber den Opfern gekümmert, nun sind die Opfer von Monat zu Monat mehr in die Rolle von Bittstellern gedrängt worden. Als Bautzen, Waldheim und Hoheneck in allen Schlagzeilen waren, trafen die Häftlinge von damals auf Anteilnahme und Mitgefühl. Dann wuchsen den Politikern die Kosten für den Aufbau im Osten über den Kopf. Der Golfkrieg verschlang Reserven, nun bürden uns die Politiker, weil sie unbedingt eine andere Hauptstadt wollen, neue Ausgaben auf. Ausgerechnet in dieser Situation melden sich die Opfer von damals und begehren Entschädigung für geraubte Jahre, zerstörte Gesundheit, gestohlenes Eigentum — es ist der für die Opfer denkbar schlechteste Augenblick.

Honecker ist entwischt, der Tisch-Prozeß gebar ein Mäuslein, endlich wird gegen die Urheber des Schießbefehls und die Grenzschützen ermittelt — was empfinden jetzt bundesdeutsche Politiker, die einst die Dokumentarstelle in Salzgitter schließen wollten und die Zahlungen für sie einstellten, weil Honecker dies wieder und wieder forderte? Wo aber Verbrechen und Unrecht nicht sind, kann nicht gesühnt und bereut werden. Längst wird diese Soße gerührt: In der DDR waren alle Täter und Opfer gleichermaßen! Aus dem Qualm der Schuld soll der Nebel des Vergessens werden. Das könnte der PDS so passen.

Es ist nicht nur ein Wirtschaftssystem zusammengebrochen. Der Kommunismus Moskauer Prägung und der Sozialismus „in den Farben der DDR“ beanspruchten ja das ganze Leben mit Erziehung, Kunst, Kultur, Wehrbereitschaft inklusive Feindgemälde nebst Haß, Traditionsgefühl, Genügsamkeit und Fleiß der Arbeitsameisen, Drängen vom Ich zum Wir verbrämt mit Götzenkult und Intoleranz, denn der Sieg galt als gesetzmäßig. Für große Teile unserer Intelligenz war rot deckungsgleich mit schön und wahrhaftig, sie sahen im Kommunismus die Alternatve zu den Widersprüchen im Kapitalismus und, so Brecht, das Einfache, das so schwer zu machen sei. Volker Braun warnte vor Ungeduld: In vierhundert Jahren sprechen wir uns wieder! Nun nennt Hans-Joachim Schädlich das Vertrauen so vieler deutscher Intellektueller in die Verheißungen von Marx und Lenin eine Grundtorheit unserer Epoche.

Mit der Arbeit der Justiz allein ist es nicht getan. Aber sie muß den Anfang machen. Nur so kann das Vergangene durchdacht und das neue Wegenetz befestigt werden. Vorbilder sind rar. Allerlei Schriftsteller der DDR richteten im heißen Herbst 1989 einen Ruf an Leser und Bewunderer, es doch noch einmal mit dem Sozialismus zu versuchen, nun freilich demokratisch und effektiv. Sie malten einen gierigen Kapitalismus des 19.Jahrhunderts an die Wand. Allerlei westdeutsche Kollegen stimmten zu, nur das Volk, der große Lümmel, wollte von all den Sprüchen nichts mehr wissen. Unter den Propheten kam Ekel auf vor den schlechten Manieren derer, die dem Begrüßungsgeld zustrebten, und dann wählten „unsere Menschen“ auch noch anders als gewünscht. Nun nehmen die Geistesführer von einst übel, und es ist kein Drängen mehr im Volke, aufzublicken und Ausschau zu halten nach ihrem wegweisenden Wort.

Geistige Auffüllung ist nicht in Sicht. Für viele in den neuen Ländern erscheint das Neue als Videoshop und Schlimmeres, als Zweitwagenhandel und Inflation von Pommesbuden. Groschenblätter sind zu haben, St.Pauli und Chicago wirken nah. Haben wir euch das, so scheinheilig die PDS, nicht schon immer gesagt? Marktwirtschaft ist aber nur ein Teil westdeutschen, westlichen, abendländischen Lebens, sie ist nur dort sozial, wo Gewerkschaften das Gleichgewicht steuernde Partner des Kapitals sind. Humanistischer, liberaler Geist gehört dazu. Die Kirchen, in den Tagen der Wende revolutionäre und mäßigende Kraft zugleich, stehen verstört vor der Aufgabe, christlichen Geist zu erwecken. Sie scheinen weder die philosophische noch die oragnisatorische Kraft zu haben, die Folgen von zwei atheistisch bestimmten Herrschaftsformen zu beseitigen. Wer vermittelt bürgerliche Traditonen? Wertebewußte, im positiven Sinne konservative Denker, Schreiber gar, waren in Deutschland jahrzehntelang rar und fühlten sich gegenüber der lautstärkeren Linken im Rechtfertigungsdruck. Jetzt fehlen sie an den Universitäten, in Redaktionen und Funkhäusern. An den Gerichten fehlen sie freilich auch. Und wie viele Politiker leben unter uns, die als moralische Institution gelten können?

Rehabilitierung lebt nicht vom Geld allein. Ich beklagte, als ich im April vorigen Jahres vor dem Obersten Gericht der DDR freigesprochen worden war, die Kälte, die von den Richtern ausging, und kam auf die Idee, Umdenken sei schwer, Umfühlen aber noch schwerer. Jetzt kann aus Zeitmangel nicht immer verhandelt werden, manchmal wird den Opfern von einst ein Bescheid zugestellt. Gerichtsdeutsch wird von den wenigsten als warmherzig empfunden werden können. Wäre es möglich, so frage ich, über die Aufhebung alter Unrechtsurteile in der örtlichen Presse zu berichten? Notfalls auf Sonderseiten, die die Justiz bezahlt? Öffentlichkeit kann Balsam sein. Es wäre ein Weg, Verfahren nicht zu komplizieren und doch neue Verletzungen zu vermeiden.

Ohne Bestrafung der Täter oder zumindest Aufzeigen von Schuld keine geistige Hygiene, und längst hat die Zeit gegen die Opfer gearbeitet. Die Höhe von Entschädigungen sind nicht aus den Verlusten errechnet worden, sondern daraus, was Beamte gerade noch aus dem Finanztopf herauskratzen konnten. In ein paar Leitartikeln werden sie verhöhnt werden, dann ist auch das ausgestanden. Das höchste für ein Beamtengefühl liegt derzeit bei tausend Mark für einen Haftmonat, auch sechshundert oder vierhundert sind im Gespräch. Der Justizminister hält sich bedeckt, er hat wohl gegenüber dem Finanzminister die schlechteren Karten. Die Häftlinge von einst haben längst keine so wirksame Lobby wie die Beamten von heute. Der Deutsche Beamtenbund fordert für Mitglieder, die nicht von Bonn nach Berlin ziehen können oder wollen, Vorruhestandsregelung vom 45. Jahr an, und für die, die doch in den süßsauren Berlin-Apfel beißen, eine monatliche „Ballungsgebietszulage“ von tausend Mark.

Vor Jahren in einer Krisensituation schlug ich vor, es sollten bei Diskussionen im Fernsehen über die Höhe von Arbeitslosenunterstützung und Sozialhilfeleistung gelegentlich die Gehälter der teilnehmenden Journalisten und Politiker eingeblendet werden. Auch heute käme das dem nahe, was ich mir unter einem „gläsernen Politiker“ vorstelle.

Wir brauchen die juristische, die politische, die moralische und die finanzielle Regelung dieses Problems. Bitte sorgen Sie alle dafür, daß es nicht zu einer biologischen Lösung kommt. Erich Loest

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