DOKUMENTATION: Gemeinsam gegen den Krieg
■ Erkenntnisse der Europäischen Friedenskarawane durch Jugoslawien
Vom 25. September bis zum 1.Oktober 1991 ist auf Initiative der HCA — der Helsinki Citizens Assembly, einem Bürgerzusammenschluß aus allen KSZE-Ländern — eine Friedenskarawane von Triest durch Slowenien, Kroatien, Vojvodina, Serbien und Bosnien-Herzegowina gezogen. Delegationen besuchten auch die anderen Republiken. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Friedenskarawane haben mit Tausenden von Menschen in diesen Ländern gesprochen, viele Versammlungen und Seminare abgehalten und mit hochrangigen Parlaments- und Regierungsmitgliedern diskutiert. Das zentrale Anliegen der Friedenskarawane, die ganz überwiegend freundlich, zustimmend und hoffnungsvoll empfangen wurde, lautete: Kooperation statt Krieg. Sie wollte jene Menschen in Jugoslawien ermutigen, die gegen den Krieg auftreten, und ihnen zeigen, daß sie mit internationaler Unterstützung rechnen können.
An der Karawane beteiligen sich ungefähr 400 Menschen aus den Friedens- und Bürgerbewegungen der meisten KSZE-Staaten. Die deutsche Gruppe mit etwa 40 Teilnehmern, vor allem vom „Komitee für Grundrechte und Demokratie“, von der ökumenischen Initiative „Ohne Rüstung leben“ und den „Frauen für den Frieden“ organisiert, hat viele neue Einsichten über den komplexen Konflikt in Jugoslawien gewonnen. Eine der wichtigsten lautet: Es gibt sehr viele Menschen aus allen Teilen der Gesellschaft und aller Nationalitäten, die die kriegerische Austragung der Konflikte und die nationalistische Zurichtung ihrer Gesellschaften ablehnen. Viele junge Männer, auch und gerade in Serbien, desertieren, und noch mehr Rekruten und Reservisten verweigern sich der Einberufung in die Armee.
1.Auf unserer Reise beriefen sich immer wieder Kroaten, Serben und Slowenen auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Wir unterstützen dies. Gleichzeitig sagten wir, dieses Recht darf nicht auf Kosten der Nachbarn und von Minderheiten ausgeübt werden. Wer das Selbstbestimmungsrecht einfordert und gleichzeitig Minderheiten unterdrückt, verliert seine Glaubwürdigkeit.
2.Bei den Gebietsansprüchen Serbiens an Kroatien sowie bei den früheren Gesprächen zwischen den Präsidenten Kroatiens und Serbiens über eine mögliche Aufteilung Bosnien- Herzegowinas ist anscheinend von der Forderung nach einer „ethnisch reinen“ Gesellschaft ausgegangen worden. Wir warnen vor solchen, letztlich rassistischen Bestrebungen und setzen dagegen das Bild der Gesellschaft gleichberechtigter Bürger vielfältiger kultureller Herkunft. Es gilt, die Bedeutung der Grenzen innerhalb Europas zu vermindern und die Zusammenarbeit zu verstärken, nicht aber neue Herrenvölker-Nationen zu errichten.
3.Bosnien-Herzegowina mit seiner vielfältigen und relativ ausbalancierten Bevölkerungsstruktur wird von serbischen und kroatischen Gebietsgelüsten bedroht. Oft wurde uns gesagt, die Erhaltung der Integrität Bosniens sei von zentraler Bedeutung für die Verhinderung eines großen Bürgerkrieges aller gegen alle. Wir teilen diese Auffassung; nicht nur aus geographischen Gründen, sondern auch, weil Bosnien-Herzegowina als multikulturelle Gesellschaft eine Vorbildfunktion hat gegen alle nationalistischen Bestrebungen. Deshalb ist es wichtig, in vorbeugender Strategie Bosnien-Herzegowina schon heute alle Hilfe zu geben, um es gegen Provokationen und Aggressionen abzusichern. Entmilitarisierte Zonen an der Grenze, die Entsendung von KSZE-Beobachtern könnten neben wirtschaftlich schnell wirksamen Hilfen (zum Beispiel Treibstoff- und Ölversorgung angesichts der katastrophalen Energiesituation und des bevorstehenden Winters) eine endlich rechtzeitige Unterstützung sein.
4.Wir haben auf unserer Reise erfahren, welche Bedeutung den Kirchen in diesem Konflikt zukommt. Die katholischen, orthodoxen und muslimischen Religionen sind mit der Bevölkerung in Kroatien, Serbien und Bosnien-Herzegowina in besonderer Weise verbunden. Ihr Votum für oder gegen den Krieg ist von großem Gewicht. Wir rufen alle religiösen Kräfte auf, sich eindeutig gegen Krieg und für den friedlichen Dialog auszusprechen. Die Kirchen in der Bundesrepublik mögen alles in ihren Kräften Stehende tun, um solchen Dialog zu fördern.
5.Menschen, die sich in den jugoslawischen Ländern angesichts der nationalistischen Tendenzen für Frieden einsetzen, werden schon heute bedroht und haben in der emotional aufgeheizten Atmosphäre mit Verfolgung und Terror zu rechnen. Sie müssen wir, soweit es in unseren Kräften steht, schützen. Dies ist vor allem möglich, indem über alle Bedrohungen und Unterdrückungen ausführlich und ständig in der internationalen Öffentlichkeit berichtet wird. Wir rufen die deutschen Medien auf, wie es zum Beispiel bereits in Italien, Frankreich und den Niederlanden geschieht, sich kooperierend über alle Meinungsverschiedenheiten hinweg an dieser Aufgabe zu beteiligen. Die Möglichkeit der freien Entfaltung der Friedenskräfte in Jugoslawien ist ein wichtiger Maßstab für die Demokratisierung der Gesellschaften und für die tatsächliche Verwirklichung von Menschenrechten.
6.Wir haben die Verhältnisse während unserer Friedenskarawane als äußerst komplex erfahren. Die historische Schuld ist vielfach. Es gibt nicht „die Serben“ oder „die Kroaten“. Kriegsbereitschaft und Repression sind nicht nur einseitig zu verorten. Wir warnen deshalb davor, in unserem Lande Feindbilder, die immer zugunsten von Schwarz-Weiß- Zeichnungen falsche Einschätzungen der Wirklichkeit vermitteln, entstehen zu lassen. Die Zeichnung des Bildes vom „nur guten Kroaten“ und „immer bösen Serben“ oder umgekehrt behindert Vermittlung sowie Versöhnung.
7.Es ist zu befürchten, daß solche anachronistischen nationalistischen Kriege wie jetzt in Jugoslawien bald auch in vielen Teilen des ehemaligen Ostblocks ausbrechen. Rechtzeitige Konfliktvorbeugung und -bearbeitung ist angesagt. Wir fordern die Regierungen der KSZE-Staaten, aber insbesondere die Bundesregierung auf, die Ausbildung geeigneter, nichtmilitärischer Instrumente, Verfahren und Institutionen voranzutreiben, damit die europäische KSZE- Staatengemeinschaft vorbeugend einwirken kann.
8.Der Appell an die Regierungen reicht allerdings nicht. Die Bürger der europäischen Staaten müssen selbst alle ihre Möglichkeiten ausschöpfen, um ihre Kontakte zu den Kräften in den jugoslawischen Ländern zu intensivieren, die für Frieden eintreten. Sie sollten den Dialog der Jugoslawen, die in ihren Ländern leben, anregen und unterstützen. Wir rufen insbesondere die Bürgerinnen und Bürger sowie die Initiativen und sozialen Bewegungen in der Bundesrepublik auf, mit hier lebenden JugoslawInnen das gemeinsame Gespräch zu organisieren. Auf diese Weise könnten die Stimmen der im Ausland lebenden JugoslawInnen die Friedenskräfte im Lande selbst stützen. Die Helsinki Citizens Assembly, welche die Initiative zu dieser Friedenskarawane ergriffen hat, sollte auf der Basis der Erfahrung aus diesem Projekt weitere versöhnende und verbindende Vorhaben entwickeln.
9.Die nationalistische Ideologisierung und Verhetzung ist in einigen Ländern Jugoslawiens weit vorangeschritten. Sie treibt zu ständig zunehmender Eskalation des Krieges. Wir hoffen, daß Serben, Kroaten, Muslime, Christen aller Kirchen, Albaner und all die anderen ethnischen Gruppen auf allen Ebenen der Gesellschaft sich auf den allein hilfreichen Weg der Versöhnung besinnen. Verhandeln über die möglichen Formen sinnvoller Kooperation statt Krieg ist das Ziel und die Forderung. Mütter und Väter, WissenschaftlerInnen und ArbeiterInnen, KünstlerInnen und SportlerInnen, kurzum, alle sozialen Gruppen müssen über ethnische Grenzen hinweg den Widerstand gegen Krieg und Gewalt organisieren. Wir verpflichten uns, den schwierigen Beginn dieses Dialogs nach unseren Kräften zu fördern. Den in allen Teilen des ehemaligen Jugoslawiens in großer Zahl entstandenen Friedens- und Antikriegsgruppen fehlen fast alle materiellen Voraussetzungen für diese Arbeit. Wir rufen erneut zu Spenden auf, um dort die Kommunikationsstruktur weiter fördern und Hilfe zur Selbsthilfe leisten zu können. Andreas Buro, Klaus Vack,
i.A. der deutschen Gruppe
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