DOKUMENTATION: Für eine Republik der Toleranz
■ Charta 1991 — 250 irakische Intellektuelle fordern den Aufbau einer zivilen Gesellschaft und eine demokratische Verfassung für ihr Land
Der zivilen Gesellschaft wurde im Irak vom Staat Gewalt angetan. Als Folge wurden alle Strukturen, über die Zivilität normalerweise entsteht und aus denen sie sich neu bildet, zerstört. Es kam zu einem völligen Kollaps aller Werte. Unter diesen Bedingungen ist es die erste Aufgabe einer neuen Politik, die Barbarei zu verwerfen und Zivilität wiederherzustellen. Wir, die UnterzeichnerInnen, eine Gruppe irakischer Männer und Frauen unterschiedlicher nationaler, religiöser und politischer Überzeugung, erklären hiermit:
1. Alle Menschen haben Rechte aus keinem anderen Grund als dem, individuelle menschliche Wesen zu sein.
Diese Rechte können nur durch die Macht der Gesetze und genaue Verfahren, die in einer geschriebenen Verfassung verankert sind, gesichert sein. Ein solches Dokument muß vor der Einrichtung einer politischen Autorität stehen. Politische Legitimität kann nur auf einer solchen Verfassung der Menschenrechte begründet sein, sonst ist sie entweder vorübergehender Natur oder illegitim.
2. Freiheit von Angst ist zentrale Grundvoraussetzung, um die Würde jedes Menschen zu verwirklichen.
Eine neue irakische Verfassung muß garantieren, daß:
— Staatsbürgerschaft ein Recht für alle Individuen wird, die im Irak geboren wurden, die ein irakisches Elternteil haben oder aber naturalisiert wurden;
— kein Iraker Opfer willkürlicher Verhaftung, Untersuchungshaft oder Deportation wird;
— kein Iraker Opfer brutaler und inhumaner Behandlung oder Bestrafung wird;
— kein Schuldbekenntnis, wie immer erworben, eines irakischen Gerichtshofs würdig ist;
— die Todesstrafe für mindestens zehn Jahre ausgesetzt wird;
— jede/r Iraki das Recht auf Reisefreiheit in- oder außerhalb des Irak hat;
— die Menschenrechtsdeklaration der UNO bindend für das Rechtssystem des Irak wird;
— alle irakischen Amtsträger, die diese Grundsätze verletzten, ihrer Ämter enthoben und unter Anklage gestellt werden.
3. Der Wiederaufbau einer zivilen Gesellschaft heißt, das Prinzip der Toleranz zu einer neuen öffentlichen Norm zu erheben, die über allen Ideologien steht.
Toleranz in allen politischen, religiösen und ethnischen Fragen ist die einzige Alternative zu Gewalt und der Herrschaft der Angst. Das ganze kreaktive Potential der irakischen Menschen, an das wir zutiefst glauben, wird erst dann erkannt werden, wenn die Toleranz so stark in unseren Herzen und Gedanken glüht wie schon in der neuen Verfassung. Einzig akzeptable Grenzen der Toleranz können nur in der Verfassung liegen, die auf den Menschenrechten gründet. Toleranz wird nicht denen gelten, die mit Gewalt handeln. Und sie wird nicht die unzählbaren Menschenrechtsverletzungen der Vergangenheit vergessen machen.
Toleranz ist ein Wert, der über der Loyalität des Blutes oder dem gemeinsamen Erbe steht. Sie ist dem Ritual nationalistischer Selbstbeweihräucherung überlegen. Toleranz ist der erhabenste menschliche Wert.
4.Eine repräsentative parlamentarische Demokratie wird die neue Ordnung der „Republik der Toleranz“ sein.
Kern des demokratischen Gedankens sind qua Verfassung verankerte Rechte, die den Teil vor der Tyrannei des Ganzen schützen sollen. Es soll also die Mehrheit nicht nur regieren, weil sie eine Mehrheit ist, und nicht, weil sie glaubt, ein Monopol auf die Wahrheit zu besitzen. In einer Demokratie heißt Freiheit immer das Recht, anders zu denken, zu arbeiten, zu sprechen, sich selbst auszudrücken — als Individuum oder als Gruppe. Einzige Grenze der Freiheit liegt darin, daß sie anderen keinen Schaden zufüge.
5. Der Glaube, nur in einem stehenden Heer und in modernen Vernichtungswaffen manifestiere sich Stärke, hat sich als gescheitert erwiesen.
Wahre Stärke liegt oft im Innern — in den kreativen und kulturellen Kapazitäten eines Volkes. Man findet sie in der zivilen Gesellschaft, nicht in einer Armee oder einem Staat. Oft bedrohen Armeen die Demokratie. Je größer sie werden, desto mehr schwächen sie die zivile Gesellschaft. Dies geschah im Irak. Deswegen sollte eine neue irakische Verfassung im Rahmen internationaler und regionaler Garantien über die territoriale Integrität des Irak und im Kontext einer militärischen Abrüstung im gesamten Nahen Osten folgende Punkte beinhalten:
— Abschaffung der Wehrpflicht. Die Armee sollte in ein kleines Berufsheer mit rein defensivem Charakter umgebaut werden. Sie darf auch nie mehr für die innere Repression benutzt werden. Die Ausgaben für diese Armee dürfen zwei Prozent des Nationaleinkommens nicht überschreiten.
— Der erste Artikel der Verfassung sollte lauten: „Nichts sehnlicher wünschend als einen internationalen Frieden auf der Basis von Gerechtigkeit und Ordnung, wird das irakische Volk für immer Krieg als souveränes Recht der Nation verurteilen. Gleiches gilt für die Drohung mit oder den Einsatz von Gewalt als Mittel zur Lösung internationaler Konflikte. Das Recht des irakischen Staates auf Kriegsführung wird nicht anerkannt.“
6. Die Charta 91 fordert eine schriftliche Verfassung für den Irak, die aus gemeinsamen Diskussions- und Debattenerfahrungen entstehen soll.
Charta 91 ist keine Organisation, sondern eine Unterschriftenkampagne. Jede/r ist willkommen, der seinen oder ihren Namen unter dieses Dokument setzen will.
Ihren Namen verdankt die Charter dem furchtbaren Jahr in der Geschichte des Irak. 1991 ist das Jahr eines unglaublich zerstörerischen Krieges. Es ist auch das Jahr des Aufstands vieler Irakis gegen das Böse in ihrem eigenen Land, gegen das sie sich erhoben. Und es ist das Jahr, in dem dieser Aufstand brutal niedergeschlagen wurde. Kein Iraker wird jemals 1991 vergessen.
Charta 1991 ist ein anderer Grund, sich an das Jahr 1991 zu erinnern. Indem es sie gibt, zeigt sie, daß die Mauer der Angst durchbrochen wurde: Niemals wieder werden wir Irakis unsere Köpfe schamvoll senken und die Gewalt in unserem Namen wüten lassen. [der Text wurde leicht gekürzt, d. Red.]
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