DIW-Studie: Der Atomausstieg lohnt sich
Der Nutzen der Energiewende übersteigt die Kosten. Dass Deutschland vorangeht, wird sich auszahlen und dem Klimaschutz nützen.
Atomkraft ist gefährlich, teuer und nach der Katastrophe in Fukushima in vielen Ländern hoch umstritten. In vielen europäischen Ländern und in Nordamerika erscheint es unwahrscheinlich, dass Privatunternehmen noch das Risiko von Neubauten auf sich nehmen würden. Und in Deutschland ist die Energiewende hin zu erneuerbaren Energien auf breiter Basis gewollt.
Nicht nur in der Gesellschaft, auch unter den im Bundestag vertretenen Parteien besteht ein schon fast als historisch zu bezeichnender Konsens. Der Beschluss der Bundesregierung, innerhalb des nächsten Jahrzehnts aus der Atomkraft auszusteigen, ist daher konsequent.
Es bleiben jedoch entscheidende Fragen: 1. Können wir uns einen Ausstieg aus der Atomkraft wirtschaftlich und ökologisch leisten? 2. Nützt unser Ausstieg überhaupt etwas? Oder führt der Verzicht auf eigene Atomkraft lediglich dazu, dass wir mehr ausländischen Atomstrom importieren? Und 3.: Was bringt es Europa oder der Welt, wenn Deutschland beim Ausstieg den Vorreiter spielt, alle anderen aber bei der Atomenergie bleiben? Die Wissenschaft kann hier Antworten geben.
Claudia Kemfert ist Abteilungsleiterin, Christian von Hirschhausen Forschungsprofessor und Gert G. Wagner Vorstandsvorsitzender am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin. Claudia Kemfert ist zudem Professorin an der Hertie School of Governance in Berlin. Christian von Hirschhausen und Gert G. Wagner lehren an der Technischen Universität Berlin.
***
Wochenbericht des DIW Berlin 20/2011 "Chancen der Energiewende", auch mit Hintergründen
zur Netzauslastung:
Kraftwerkspark und Stromproduktion: Wochenbericht 23/2010:
Satte Gewinne winken
Die erste Frage ist rasch beantwortet: Die Energiekosten werden tendenziell sinken. Bisher konnte Atomstrom nur deshalb so preiswert produziert werden, weil die Gesellschaft den größten Teil der Kosten übernahm. Angeboten wird der preiswert produzierte Atomstrom übrigens nicht gerade billig, denn Deutschland hat im europäischen Vergleich mit die höchsten Strompreise. Die durch Unfälle oder andere Risiken entstehenden Schäden sind kaum versichert, deren Kosten werden pauschal der Gesellschaft aufgebürdet.
Selbst ein sofortiger Verzicht auf die ältesten Atomkraftwerke führt nur zu geringen Strompreissteigerungen. Das zeigen Berechnungen des DIW Berlin. Die Berechnungen belegen auch: Bereits bis 2020 könnte der Anteil der erneuerbaren Energien am Strommix verdoppelt werden. Geeignete ungenutzte Flächen, etwa zur Nutzung von Windenergie an Land, sind vorhanden, und auch in der Nordsee kann mehr Windenergie genutzt werden. Dazu kommen Biomasse, Wind- und Solarenergie.
Langfristig sollen erneuerbare Energien den Atomstrom und fossile Brennstoffe zunehmend ersetzen und zur Hauptenergiequelle für Deutschland werden. Damit relativieren sich auch die "Kosten" der Energiewende: Die Durchsetzung einiger erneuerbarer Energien wird dazu führen, dass Strom in vielen Stunden des Jahres wesentlich günstiger wird als heute und teilweise sogar fast zum Nulltarif angeboten werden kann.
Bereits heute ist der sogenannte Merit-Order-Effekt erheblich, mit dem Wind- und Sonnenenergie zu einer Senkung des Strompreises beitragen. Diese Effekte werden sich mit zunehmendem Anteil der erneuerbaren Energien verstärken. Mittelfristig führt die Energiewende also zu erheblichen gesellschaftlichen Wohlfahrtsgewinnen.
Netze effektiver gestalten
Was die zweite Frage betrifft, zeigen sowohl die Untersuchungen des DIW Berlin als auch die Studien anderer Institute, dass Deutschland im Falle eines Ausstiegs keineswegs zwangsläufig mehr Atomstrom aus dem Ausland importieren müsste. Zu den Tageszeiten, zu denen hierzulande besonders viel Strom verbraucht wird, sind allerdings die Atomkraftwerke der Nachbarländer auch ausgelastet.
Zwar importiert Deutschland derzeit auch Strom aus Frankreich und Tschechien, doch es ist keinesfalls gesichert, dass dies dauerhaft so sein wird. Zusätzliche Importe kommen somit auch aus fossilen Kraftwerken oder regenerativen Energiequellen. Der Import von fossilem Strom steigert zwar die CO2-Intensität unseres Stromverbrauchs kurzfristig, sie wird jedoch mit dem Ausbau der Erneuerbaren rasch wieder abnehmen. Deutschland kann und sollte sich dem freien Strommarkt nicht entziehen.
Im Strombereich ist für den Atomausstieg nicht nur ein Ausbau der Netze und Speicher notwendig - auch die Strommärkte müssen künftig effektiver gestaltet werden. Dazu könnte die Schaffung eines unabhängigen "Systembetreibers" (neudeutsch: ISO, Independent System Operator) beitragen, der eine neutrale Rolle bezüglich des Handels- und Netzmanagements spielen und damit Transparenz und faire Marktpreise schaffen könnte. Die Übertragungskapazität im europäischen Stromnetz kann bis zu 30 Prozent besser ausgenutzt werden. Das schafft Flexibilität für den europaweiten Ausgleich der regional schwankenden Wind- und Solarstromerzeugung und somit ihres Anteils an der gesamten Energiegewinnung. Durch besseres Netzmanagement wird die Netzintegration der erneuerbaren Energien so gesteigert, dass sie in absehbarer Zeit über die Hälfte des Gesamtbedarfs decken können - mit weiter steigender Tendenz.
Kohle komplett verfeuern?
Bleibt die dritte Frage nach dem Sinn eines "unilateralen" Ausstiegs. Zum einen steht Deutschland beileibe nicht allein: Inzwischen hat auch die Schweiz den Ausstieg beschlossen, in Italien hat sich das Volk gegen die Atomenergie ausgesprochen, und in England und den USA sind Neubauprojekte wegen enorm gestiegener Risikokosten unsicherer geworden.
Dass Schwellenländer wie China an der Kernkraft festhalten wollen, ist kein gutes Argument für uns, weiterhin auf diese Technologie zu setzen. Und ob es möglich sein wird, Reaktoren der "vierten Generation" zu bauen, bei denen aus technischen Gründen ein Super-GAU naturwissenschaftlich ausgeschlossen wäre, steht in den Sternen.
Mittelfristig ist es für die Menschheit daher absolut notwendig, auf erneuerbare Energiequellen umzusteigen - selbst dann, wenn man die unversicherbaren Großrisiken der Atomenergie ignorieren würde. Zwar gibt es noch große Vorkommen fossiler Brennstoffe, aber auch ihr Einsatz ist gefährlich: Würden die weltweiten Kohlereserven in den nächsten 200 Jahren komplett verfeuert, würde der Planet für die Menschheit unbewohnbar. Zynisch gesagt: Das Nachhaltigkeitsproblem würde dadurch gelöst, dass sich die Menschheit schon ausrottet, bevor sie die letzte Kohle abbauen konnte.
Die Frage, was der deutsche Atomausstieg bringt, ist also einfach zu beantworten: Wenn Deutschland den Vorreiter spielt und den Umstieg auf die erneuerbaren Technologien erfolgreich absolviert, dann trägt es mit der neu entwickelten Technik dazu bei, dass andere Nationen rasch folgen können. Die deutsche Industrie würde helfen, dass die Welt schneller zu nachhaltigeren, umweltfreundlicheren und die Gesundheit weniger gefährdenden Energiequellen findet. Und sie würde daran gut verdienen. Es lohnt sich also in vielfacher Hinsicht für uns, als Ausstiegs-Avantgarde voranzuschreiten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Fußball-WM 2034
FIFA für Saudi-Arabien
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen