DIETER BAUMANN über LAUFEN : Volle Pulle und dann Pause
Ein Lauftreff im Knast? Kein Problem – auch wenn die Sportart dort nicht zu den beliebtesten zählt
Mein Tischnachbar grinste spitzbübisch: „Und, wie findest du unseren Haufen?“ Der Haufen, wie er es nannte, waren 30 Häftlinge der Haftanstalt Gießen. Wir saßen im kleinen Gemeinschaftsraum, der Kirche, Kraftstudio und Vortragsraum in einem ist, und aßen Nudeln mit Bolognese. Alle machten zufriedene Gesichter, plauderten und lachten. Die Stimmung war entspannt, denn kurz vor dieser Pasta-Party waren alle eine Stunde gelaufen. Eine ganze Stunde, am Stück, ohne Pause!
Das war für alle eine wahre Meisterleistung, denn Laufen ist nicht die Sportart Nr. 1 im Knast. Im Gegenteil, nach den Oberarmumfängen zu urteilen ist es eher Gewichtheben. Der „Haufen“ hatte sich acht Wochen auf diesen Lauf über eine Stunde vorbereitet. Acht Wochen lang dreimal pro Woche laufen. Kein Problem sollte man meinen, laufen kann schließlich jeder, auch ein Gewichtheber. Aber wir liefen nicht in einem schönen Stadtpark, nicht an einem idyllischen Bachufer entlang oder im Hochschwarzwald mit berauschender Aussicht.
Beim ersten Treffen stand ich der Gruppe, 29 Gewichthebern und einem Läufer, im Gefängnishof gegenüber. Das ist ein kleiner Bolzplatz, mehr nicht. Roter Tartanbelag, zwei Meter Asphaltboden drum herum, dann kommt die Mauer. Sechs Meter hoch ist sie und aus rotem Backstein. Oben auf der Mauer liegen zwei Rollen Stacheldraht. Hier also sollten wir laufen. Ziel für alle: eine Stunde am Stück, ohne Pause. Eine Runde um diesen Tartanplatz misst 100 Meter.
Wir begannen mit einem ganz langsamen Lauftempo, 45 Sekunden auf die Runde. Alle waren dankbar, nur der Marathonläufer nicht, der wollte immer schneller. Nach zehn Minuten legten wir die erste Pause ein. Wieder waren alle dankbar, nur der Marathonläufer nicht, der wollte weiter. Nach einer kurzen Gehpause folgten die nächsten zehn Minuten laufen. Ich hatte aufgehört die Runden zu zählen.
Später dann, im Kirchenkraftundvortragsraum warf ich die Frage auf: Was ist Training? Lächerlich, dachte ich. Wollen das die Jungs überhaupt wissen? Training, Laufen, wie funktioniert eine Vorbereitung? Unschlüssig stand ich vor ihnen und fragte mich: Warum laufen die Jungs? Langeweile, Aggressionsabbau oder doch für eine bessere Fitness?
Nach dem ersten Training legte ich mit dem Sportbeauftragten einen rudimentären Ablauf fest. Der Grundsatz des Trainingsprogramms war: Weniger Bankdrücken, mehr laufen. Nicht bis zur totalen Erschöpfung, nicht immer volle Kiste, aber doch regelmäßig. Dann kam mein zweiter Besuch. Wie beim ersten Mal musste ich durch viele zugeschlossene Türen. Wieder wartete die Gruppe im Gefängnishof. Es war eine offene, eine fröhliche Begegnung. Fast hatte ich den Eindruck, sie waren freudig überrascht. Dachten die, ich komme nicht? Egal, nun war ich da, Lauftreff im Knast. Das Training begann: Warmlaufen, zehn Minuten. Dann heizten wir um den Bolzplatz. Carl Lewis wäre vor Neid erblasst. Teamverfolgung im 30 Sekunden Takt. Verstecktes Intervallprogramm. Das lag den Jungs. Immer drauf, voll Pulle und dann Pause.
Zugegeben, das ist keine Dauerlaufeinheit, aber dafür sehr effektiv und das Richtige, um die Gruppe müde zu machen. Beim Auslaufen kamen einige ins Erzählen. Sie warten auf einen Richterspruch oder ihre Freilassung. Dies kann in drei Monaten sein, in einem Jahr oder noch später. Manche machen sich Hoffnungen auf Hafterleichterung, auf offenen Vollzug oder auf ein Wunder. Sie hadern mit dem Schicksal, mit ihren Freunden oder mit sich selbst. Und sie laufen, dreimal pro Woche.
Die letzte Phase der Vorbereitung begann. Die Laufabschnitte wurden länger, die Pausen kürzer. Am letzten Tag plärrte laute Musik durch den Innenhof, „we are the champions“, die Laufrunde war mit Trassierbändern abgesteckt. Die Gruppe lief eine Stunde am Stück, 80 Runden, nur der Marathonläufer legte mehr zurück, 140 Runden. Wie also sollte ich diesen „Haufen“ finden? Außergewöhnlich, einfach nur außergewöhnlich.