DIETER BAUMANN über LAUFEN : Helden im Dreck
Bei Schlamm, Matsch und Regen macht das Laufen erst richtig Spaß – schließlich trotzen wir so der Natur
Vor fast 200 Jahren waren in Europa Botenläufer verbreitet. Sie überbrachten Briefe und Nachrichten und legten auch weite Strecken zurück. Ihr Gewerbe ging später in eine Art Wettläufer über, das bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts betrieben wurde. Sie waren Helden ihrer Zeit und ihre Leistungen beeindruckend.
Neulich las ich eine Meldung, dass einer im Jahre 1825 von Ulm nach Wiesensteig gelaufen sei, um einen Brief abzugeben. Das sind etwa 40 Kilometer, und wahrscheinlich musste der Bote noch am gleichen Abend wieder zurück. Vielleicht hatte der arme Kerl auch Glück und durfte die Nacht in Wiesensteig verbringen, um dann ausgeruht den Rückweg mit einem Antwortschreiben in Angriff zu nehmen. Jeder, der schon einmal einen Marathon gelaufen ist, weiß, was zwei Marathons an zwei folgenden Tagen bedeuten. Deshalb ist es keine Übertreibung, wenn ich behaupte: Die Jungs von damals hatten echt was drauf.
Man stelle sich einmal eine normale Arbeitswoche dieser Männer vor. Montag: Marathon nach Wiesensteig, Dienstag: Marathon zurück nach Ulm, Mittwoch: 8 km Botengang in Ulm, Donnerstagvormittag: Halbmarathon nach Blaubeuren, am Nachmittag Halbmarathon zurück, Freitag: 4 km Schnellgang zum Markt. Was für ein Training!
Als ich vor wenigen Tagen im Wald unterwegs war, wurde ich durch die morastigen Bedingungen auf den Waldwegen an diesen ausgestorbenen Beruf der Botenläufer erinnert. Im Moment sind die Waldarbeiter zugange und wühlen mit schweren Gerätschaften den Waldboden mitsamt den Wegen auf. Schlamm und Dreck, wohin man tritt. Aber natürlich liebe ich das. Das Gefühl nach einem solchen Lauf ist noch euphorischer, habe ich doch den widrigsten Bedingungen getrotzt. Ein klein wenig also fühle ich mich als Held.
Laufen ist eben keine Schönwettersportart. Jede Wetterlage hat ihren Reiz, und schließlich laufen viele Menschen, damit sie an die frische Luft kommen oder ein klein wenig Natur erleben. Dazu gehören auch Dauerregen oder Neuschnee. So komme ich zurzeit mit meinem total verdreckten Laufdress aus dem Wald zurück und fühle mich wie einer der berühmtesten Schnellläufer aus dem 19. Jahrhundert, Peter Bajus.
1824 lief er von Frankfurt nach Hanau und zurück, das Ganze in 2 Stunden und 10 Minuten. Dabei sollen die Bedingungen laut einer Chronik denkbar schlecht gewesen sein: „Er war genöthigt, den Weg um das Dorf durch tiefen Koth zu machen.“ Im Verlauf seiner Karriere stieg dieser Peter Bajus auf, vom Laufboten zum Schnellläufer. Später zum Großherzoglichen Hofläufer in Darmstadt.
Dagegen verlief meine Karriere genau umgekehrt. Zuerst war ich Schnellläufer und nun bin ich Botenläufer, zumindest dann, wenn ich meine Briefe bei einem nächtlichen Dauerlauf zur Post bringe. Noch hat mich kein Großherzog angerufen, um mich zum Hofläufer zu machen. Allerdings musste ich auch noch nie durch „tiefen Koth“ laufen.
Dagegen wurde ich vor wenigen Tagen auf einer große Sportartikelmesse in München von einem Hersteller von Laufbändern und Fahrradergometern angesprochen. Im letzten Jahr, erzählte er, führte er einen großen Wettbewerb auf seinen Fahrradergometern durch. Die Leute saßen zu Hause im Wohnzimmer auf ihren stationären Fahrrädern und waren via Internet miteinander verbunden. Dann fuhren sie auf den Rädern gegeneinander. „Eine irre Sache“, meinte der Unternehmer zu mir. „Jetzt wollen wir das gleiche mit Laufbändern machen. Einen Marathon im Internet.“
Natürlich wollte er mich vor seine Kutsche spannen. Der Mann hatte natürlich keine Ahnung, dass mich kein Wetter wirklich vom Laufen abhält. Dass „draußen sein“ der entscheidende Punkt beim Laufen ist. Bäume, Sträucher, Wiesen, der Duft, der Wind und die Geräusche im Wald sind es, die den Reiz des Laufens ausmachen. Schlamm, Matsch und schlechte Witterungs- und Wegbedingungen liebe ich insgeheim dabei. Erinnern sie mich doch an die Helden längst vergangener Tage.
Auch Matsch-Fan? kolumne@taz.de Morgen: Philipp Maußhardt über KLATSCH