DIE WIRTSCHAFTSPOLITIK ERREICHT DIE KAPITALISMUSKRITIK : Die Regierung sucht die soziale Balance
Wir werden Zeugen eines kleinen Stimmungsumschwungs in der großen Politik. Die soziale Balance im Reformprozess spielt neuerdings eine größere Rolle. Die von SPD-Chef Franz Müntefering angestoßene Kapitalismusdebatte ist Ausdruck dieser Verschiebung, die freilich nicht nur auf der Metaebene, sondern auch in der praktischen Politik zu spüren ist. So versuchen die Regierungsfraktionen gerade, die Reform der Unternehmensteuer sozial einzuhegen. Gleichzeitig will die Regierung Mindestlöhne einführen – ein Schutz der Beschäftigten gegen die Globalisierung.
Auch die rot-grüne Bundesregierung hat die Öffnung der transnationalen Märkte vorangetrieben. Nun muss sie selbst auf den Druck der Ökonomie reagieren. Und zwar anders als gewohnt. Während die erste radikale Senkung der Körperschaftsteuer zugunsten der Unternehmen ab dem Jahr 2000 ziemlich glatt durchging, ist die jetzt geplante weitere Reduzierung nicht mehr so einfach durchzusetzen. Bundesfinanzminister Hans Eichel würde den großen Unternehmen einen erheblichen Vorteil verschaffen, doch die Fraktionen von SPD und Grünen plädieren dafür, im Gegenzug Steuervorteile für Konzerne zu streichen. Die Botschaft ist klar: Das Gemeinwesen braucht Geld, um etwa durch Investitionen in Bildung seine soziale Integrationskraft in den Zeiten verschärften internationalen Wettbewerbs zu erhalten.
Aber nicht nur Geldmittel sind notwendig, auch bestimmte Rahmenbedingungen dürfen nicht fehlen. Diese Erkenntnis hat sich in vielen Staaten Europas schon früher durchgesetzt. Nun ist es auch hier so weit: Die Regierung schafft die Voraussetzungen dafür, dass Gewerkschaften und Arbeitgeber Mindestlöhne für die Beschäftigten vereinbaren können. Der Konkurrenz durch importierte Billigarbeiter wäre zumindest eine Grenze gesetzt.
Der politische Trend zur Öffnung der Märkte wird von diesen neuen Akzenten nicht gebrochen. Dass aber die soziale Balance ernster genommen wird, ist Ausdruck einer entsprechenden Stimmungslage in weiten Teilen der Gesellschaft.HANNES KOCH