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Archiv-Artikel

DIE WERBEPAUSE Traurig-wahrer Treppenwitz

Zu sanften Pianoklängen schält sich die Silhouette einer schlanken jungen Frau aus dem Schatten heraus. Langsam kommt sie auf den Zuschauer zu. Die Frau trägt ein schwarzes Kleid, trotz High Heels ist ihr Gang sicher und fest. Sie schreitet eine Treppe hinunter, tritt plötzlich ins Leere und fällt. In extremer Zeitlupe sieht man den Fall der jungen Frau, ihr Gesicht schockstarr, die Arme wie bei einer Weitspringerin nach hinten geworfen. Die Frau prallt gegen eine Betonwand. Blut spritzt.

Für Entsetzen bleibt dem Zuschauer keine Zeit. Um die Ecke kommt bereits die nächste Frau. Auch sie jung und attraktiv, auch sie fällt in Zeitlupe die Treppe hinunter, bleibt mit blutender Wunde am Hinterkopf liegen. Danach zeigt die Kamera das Treppenhaus in der Totale, überall stürzen und rollen Frauen durcheinander, Schuhe vollführen groteske Choreografien, Perlenketten reißen auf, die einzelnen Perlen fliegen unkontrolliert durch die Luft.

Nach über einer Minute wird der ratlose Betrachter erlöst: „Tausende Frauen fallen jeden Tag die Treppe herunter. Glauben Sie das wirklich? Stoppen Sie häusliche Gewalt und sprechen Sie mit uns“, erscheint in weißer Schrift auf schwarzem Hintergrund. Der TV-Spot der Frankfurter Agentur Young & Rubicam wirbt für den Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe.

Nach repräsentativen Umfragen haben 40 Prozent der in Deutschland lebenden Frauen in ihrem Erwachsenenleben körperliche oder sexualisierte Gewalt erlebt. Die Mehrheit der Täter stammt dabei aus dem engsten Umfeld, meist handelt es sich um männliche Partner bzw. Expartner. Wie absurd die klassische Ausrede vom Treppensturz ist, führt der Spot mit drastischer Übertreibung vor Augen.

Bereits vor seiner offiziellen Ausstrahlung stand der Clip auf der Shortlist des Werbefestivals in Cannes. Moralinsaure Kritiker rümpfen deshalb die Nase: Darf man ein derart sensibles Thema auf so ästhetisierende Weise aufgreifen und damit noch etwas für das Prestige der eigenen Agentur tun? Selbstverständlich darf man. Denn Werbung, besonders TV-Werbung, ist immer dann am wirksamsten, wenn sie nicht nur brav inszeniert ist, sondern Wagnisse eingeht, Tabus auslotet und den Zuschauer irritiert – also mit genau den Mitteln arbeitet, deren sich auch die Kunst bedient. Im Kampf um mehr Aufmerksamkeit für häusliche Gewalt gegen Frauen ist das mehr als legitim.

JULIAN JOCHMARING