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Archiv-Artikel

DIE „VERLORENE GENERATION“ IST DIE MIT DEN RUNTERHÄNGENDEN KABELN AN DER SEITE Die Seeumrunderin

Vergnügen im Schilfgürtel gibt’s nicht mehr

VON HELMUT HÖGE

Es gibt Leute, die in jedes Museum laufen, und andere, die auf alle Dreitausender steigen müssen. In Berlin kennt man welche, die alle Seen umrunden müssen. Hier soll von einer Seenumrunderin die Rede sein. Sie ist bald 50 und leicht verzweifelt seit der Wende 1989, denn plötzlich eröffnete sich ihr mit dem Mauerfall eine riesige Seenplatte. Allein rund um Berlin gebe es 1.000 Seen, behauptete damals das Westberliner Stadtmagazin Tip, das seine Leser motivieren wollte, ihr neues „Umland“ zu erkunden. Das taten die dann auch – und tun es noch heute. Die Gastronomie und die Seegrundstückskäufer folgten ihnen auf dem Fuß. Die in Steglitz lebende Seeumrunderin, um die es hier geht, begann 1979 als Studentin, indem sie erst einmal und dann mehrmals in der Woche um die Krumme Lanke joggte.

Nach dem Mauerfall joggte sie auch einmal um den Hönower Haussee und den Wandlitzsee. Dort wurde sie jedoch mit ihrem Outfit sofort als Westlerin erkannt und angesprochen – was ihr unangenehm war. Und am Lietzensee in Charlottenburg wurde sie mehrmals von einer BürgerInnen-Initiative angehalten, die Unterschriften gegen die vielen Hunde am See sammelte. Seitdem joggt sie gar nicht mehr, sondern umrundet einfach nur, wobei sie sich auf Wasservögel und Spaziergänger mit und ohne Hund konzentriert.

Seit 2001 hat die Seeumrunderin selber einen Hund – einen Cockerspaniel: Ein Grund mehr, solange es das Wetter erlaubt, täglich einen See zu umrunden. Zur Abkürzung sind Fähren wie die am Schwielowsee ebenso wie Buslinien erlaubt. Und zur Not tut es auch mal eine Halbinsel wie die Stralauer oder ein Tiergartenteich.

Die Seeumrunderin zählt ihre Seen nicht, ohnehin umrundet sie manche Seen immer wieder – etwa den Schlachtensee, den ihr Hund besonders mag, weil dort viele Hunde mit ihren Leuten spazieren gehen, die meisten ohne Leine. Sie springen ins Wasser, schleppen Stöcker aus dem Wald an und versuchen andere Hunde zum Mitmachen zu bewegen.

Komplimente für den Hund

Die Leute, Frauen zumeist, bleiben derweil stehen und unterhalten sich – über ihre Hunde. Sie machen sich gegenseitig Komplimente: Wie gut ihr Hund aussieht und was für ein feines Benehmen er hat – auch gegenüber anderen, kleineren Hunden. Am Kaulsdorfer See bemerkte die Seeumrunderin, dass die Leute, die dort spazieren gehen, nahezu dieselben Gespräche führen wie die am Schlachtensee, nur dass es statt um Hunde um Kinder geht, die sie in oder neben Kinderwagen dabeihaben. Und dass es sich hier um Ostproletarier und dort eher um Westakademiker handelt.

Die Seeumrunderin verschlug es einmal an den Weißen See bei Liebenberg, wo sie entgegen ihrer Gewohnheit und verbotenerweise badete, mit Hund. Und danach an den Vielitzsee bei Löwenberg, den sie – ebenfalls entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit – in einem Motorboot sitzend umrundete, ihn gleichsam von der Innenseite aus erkundend. Sie entdeckte dabei etliche Fischreiher, Kormorane und Enten sowie einen Biber. Auch von der Landseite aus hatte die Seeumrunderin sich schon immer für die Schilfgürtel interessiert, wo es unter und über dem Wasser besonders viel „Leben“ gibt.

Von dem zu Westberliner Zeiten reichsten Bauunternehmer der Stadt, Karsten Klingbeil, hatte die Seeumrunderin 1992 erfahren, dass er eigentlich Bildhauer und einst am Wannsee groß geworden sei. Dort hätten sie alle Boote gehabt, und wenn sie sich mit ihren Mädchen vergnügen wollten, dann seien sie damit in die Schilfgürtel gefahren, wo man sie nicht entdecken konnte. Nun hätten die verdammten Grünen es jedoch geschafft, ein „Röhrichtschutzgesetz“ zu verabschieden. Seitdem darf niemand mehr in die Schilfgürtel, die zudem zur Seeseite hin abgepollert und zum Land hin eingezäunt wurden. Er, Klingbeil, sei ja schon alt, aber für die Jugend von heute sei das schwer zu bedauern: Das sei nun eine „verlorene Generation“.

Dieser pessimistische Befund eines von der Stadt vielfach geehrten Bronzebildhauers gab der Seeumrunderin damals zu denken. Heute gibt sie diese „Klingbeil-Anekdote“, wie sie das nennt, nur noch zum Besten, wenn sie mal wieder einen See umrundend auf der Höhe eines Schilfgürtels von einem oder mehreren Spaziergängern auf ihren Hund angesprochen wird. Und das Gespräch von ihm auf den See und das Schilf am Ufer kommt. Dann fällt ihr wieder die „verlorene Generation“ ein. Manchmal trifft sie bei ihren Seeumrundungen auch auf einige Angehörige dieser Generation. Sie sitzen am Ufer, trinken Becksbier, telefonieren mit ihren Handys oder verschicken eine SMS und hören Musik aus kleinen Lautsprechern, die sie sich ins Ohr gesteckt haben. Man erkennt diese „verlorene Generation“, die sich nicht mehr in den Schilfgürteln vergnügen darf, an den Kabeln, die an ihr runterhängen. Ansonsten sind sie jedoch von den ganzen anderen Seeumrundern mit und ohne Hund nicht zu unterscheiden. Sieht man mal von ihren halblauten Bemerkungen über die zumeist älteren Seeumrunder ab: „Ey, kommen die alle zum Sterben hierher?!“ So rächt sich die „verlorene Generation“ an den ganzen „Röhrichtschutzgesetz“-Verabschiedern, die sie zu Recht in den Seeumrundern mit und ohne Hund vermuten.