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Archiv-Artikel

DIE SPIELE DES ACKERBAUS UND DER INDUSTRIALISIERUNG Der Übersetzer

Bridge & Tunnel

OPHELIA ABELER

Der Künstler Robert Longo ist es gewohnt, dass man ihm Vorwürfe macht. Sein Werk sei zu amerikakritisch oder auch zu amerikanisch für Amerika. Überhaupt, was dieser Fotorealismus solle und warum in Schwarz-Weiß, diese uramerikanischen Motive (die Flagge, die perfekte Welle, Footballspieler, Revolver, das Kapitol) in fast beschämend gigantischen Formaten (das Kapitol ist elf Meter lang) – und das, Hype, Krisen und Zusammenbrüche eingeschlossen (mal der Künstler, mal der Markt), seit 34 Jahren, als er mit seiner Serie „Men in the Cities“ den Nerv der Zeit traf.

Die „Men in the Cities“, Kohlezeichnungen taumelnder, sich verrenkender Männer und Frauen in Businessanzügen, das waren die Protagonisten der Reagan-Ära. Christian Bale als „American Psycho“ hatte einen in seinem Apartment hängen.

Sogar einen Actionfilm hat Longo gemacht, „Johnny Mnemonic“ mit Keanu Reeves, einen der ersten Cyberpunkfilme, und mit seiner Frau, der deutschen Schauspielerin Barbara Sukowa, hat er eine Band, die X-Patsys (Gryphiusgedichte auf einem Klangteppich von psychedelischem Rock ’n’ Roll). Seit Ewigkeiten hat er sein Atelier in einem typischen Loft in SoHo, an der Grenze zu Chinatown, und es steht kaum ein Name am Brett, der nicht irgendwie bekannt klingt. Longo ist klein und zierlich, hat eine amtliche Rock-’n’-Roll-Frisur, ist von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet und bester Dinge.

Dass ausgerechnet er mir American Football und Baseball erklären würde, zwei Sportarten, die allein schon beim Vorbeizappen einen Gähnkrampf bei mir auslösen, der sich beim Versuch des Erklärens normalerweise zum narkoleptischen Anfall steigert, hatte ich nicht erwartet. Die großformatige Zeichnung eines Footballspielers, der die Hände in der „Hands Up, Don’t Shoot“-Geste aus Solidarität mit den Protestierenden von Ferguson über den Kopf hält, lenkt das Gespräch darauf.

Longo macht nicht den Fehler, mit den völlig unübersichtlichen Regeln und Punktesystemen anzufangen. Er beginnt mit der Herkunft der Spiele und erklärt ihre gesellschaftspolitische Funktion. Baseball ist vom Ackerbau abgeleitet, das Feld ist offen, seine Dimensionen sind flexibel. Die Spieler sind Arbeiter, das Spiel folgt dem Ablauf der Jahreszeiten.

Das amerikanische Spiel

Ein Spiel kann sich unendlich hinziehen, die ganze Familie geht ins Stadion, um dort Freunde zu treffen, zu essen und zu trinken, man schaut über lange Strecken auch gar nicht zu, sondern unterhält sich. Es geht hier um die Selbstbeschreibung und Selbstvergewisserung der amerikanischen Nation. „It’s our game – the American game“, sagte schon Walt Whitman, und deshalb muss ich Baseball zum Glück nicht wirklich verstehen, genauso wenig wie Football, das andere, inzwischen sogar größere amerikanische Spiel.

Football ist ein Spiel der Industrialisierung, jeder Spieler hat eine eindeutig zugewiesene Aufgabe, wie ein Fabrikarbeiter. Zwei Teams prallen mit größter Wucht aufeinander, die Spieler sind gepanzert wie Soldaten, die Stimmung, auch im Publikum, besagt: Es herrscht Krieg. Robert Longo schimpft: „Football ist, genauso wie die Gladiatorenspiele im alten Rom, dazu da, das Volk in kämpferischer, kriegsbereiter Laune zu halten!“ Er hat lange selber gespielt, er weiß, wovon er spricht, aber er hat schon als Teenager seine Haare dagegen anwachsen lassen und gegen die Aggression angekifft.

In Longos Atelier hängt ein weiteres, absolut irritierendes Bild; jeder kennt es, es ist – oder es ist es eben doch nicht – Picassos „Guernica“. Robert Longo hat gerade eine Hommage an das ikonische Antikriegsbild fertiggestellt, sie wird im April in der Ausstellung „Picasso in der Kunst der Gegenwart“ in den Hamburger Deichtorhallen gezeigt.

Longo liefert eine ungewöhnliche Definition von Abstraktion, die angesichts seiner minutiösen Arbeitsweise aber vollkommen schlüssig ist. Der Künstler ist durch das Übersetzen von Fotografie und Malerei in Kohlezeichnungen hypersensibilisiert für Muster, Texturen und feinste Graustufen; sein Blick muss mikroskopisch geworden sein im Lauf der Jahre, ungeachtet der großen Formate.

Seine Erforschung „Guernicas“ kommt einer archäologischen Ausgrabung gleich. Er kennt jeden Winkel, jeden von Picasso übermalten Fuß, der dennoch in der Bildinformation enthalten ist. Um den Blick auf die weniger prominenten Bildbereiche zu lenken, hat er andere Bereiche mit schwarzen Balken verdeckt. Von der Tür am rechten Bildrand meint er augenzwinkernd, Picasso habe sie gemalt, um aus der Geschichte herauszukommen. Ich kann nicht anders, als an „Matrix“ zu denken und zu hoffen, dass der Ausgang funktioniert.

■ Ophelia Abeler ist Kulturkorrespondentin der taz in New York