■ DIE PREDIGTKRITIK (HEUTE: KATHOLISCH): »Mit Liebe einkaufen gehen«
Seit acht Jahren wohne ich neben der Kirche der Kamillus-Gemeinde, seit acht Jahren schwanke ich zwischen Ärger und dem Empfinden dörflicher Gemütlichkeit, wenn sie morgens zu nachtschlafender Zeit das Geläut ertönen lassen — andererseits weiß man dann immer, wann es kurz vor sechs ist. Die Kirche ist kalt, die Einrichtung schnöde und eher angsteinflößend als Geborgenheit vermittelnd. Eine Madonna mit dem Kind im Arm tritt auf den Kopf einer Schlange, hinter dem Altar starren steinerne Flammen und dornige Spieße auf modern gemalte pfingstliche Gestalten. Die Priester sind in Dunkelgrün, die Meßmädchen in jungfräulich weißen Leinenkitteln, und der Redner sagt, daß vor zwei Wochen Allerheiligen war, in zwei Wochen der Advent beginnt und heute Volkstrauertag ist. So weiß man, was die Stunde geschlagen hat. Die Lesung ist aus dem Buche Daniel und behandelt die Versiegelung der Weisheit: Und viele, so unter der Erde schlafen liegen, werden aufwachen: etliche zum ewigen Leben, etliche aber zu ewiger Schmach und Schande. Die Lehrer aber werden leuchten wie des Himmels Glanz, und die, so viele zur Gerechtigkeit weisen, wie die Sterne immer und ewiglich. — Von ähnlich apokalyptischer Vorahnung ist auch das Evangelium nach Markus, welches unverständlich auf die wenigen Kinder und älteren Leute des Kindergottesdienstes niederprasselt. Aus der Botschaft von der Endzeit heißt es: Sonne und Mond werden ihren Schein verlieren und die Sterne vom Himmel fallen, aber dann kommt der Menschensohn mit seinen Engeln. Aber wann das sein wird, wissen die Engel nicht, der Menschensohn auch nicht — nur allein der Vater. Wie wird der Priester das den Kindern erklären? Er erklärt es ihnen nicht in der Predigt, wahrscheinlich haben sie eh kein Wort verstanden, weil er so geleiert hat. Er beginnt mit dem Spruch »Zeit ist Geld«, erzählt was von Autos, die am Fließband hergestellt werden und 20.000 DM kosten, und daß für die Leute, die die Autos herstellen, der Tag sehr schnell vergeht. Andererseits gebe es aber Menschen, die sich tagsüber langweilen und nachts nicht schlafen können. »Jemand hat gesagt«, sagt der Pfarrer, »Zeit ist Liebe.« Wer hat das bloß gesagt? Und warum werden ausgerechnet die Lehrer »leuchten wie des Himmels Glanz« — das sollte er mal den Kindern erklären. Aber nein, er sagt, die Kinder müßten alles aus Liebe tun. Weiß er nicht, daß nichts, was man »muß«, einleuchtet? Die Kinder sollen, »wenn die Mutti sie zum Einkaufen schickt, mit Liebe einkaufen gehen.« Ist das nicht ein bißchen viel verlangt? Mir würde es reichen, daß mein Sohn es tut, wenn ich selbst zu faul bin. Weiter geht es fort, in der verwirrenden Ansprache, daß es zwei Gebote gäbe: 1. Gott lieben, 2. den Nächsten — und außerdem sollen wir noch Zeit für das Gebet zu Jesus finden. Dann zeigt er eine Bergmannslampe und sagt, daß wir ewig brennen sollen, zu Hause, auf dem Fußballplatz und beim Einkaufen, damit wir allen andern ein Licht sind. Ich denke, es hatte seine Gründe, daß ich dieses Gotteshaus acht Jahre ignorierte und daß es wahrscheinlich reicht, wenn ich mich weiterhin vom Geschepper der Glocken abwechselnd belästigt und beheimatet fühle. Renée Zucker
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