DIE NEUE VÖLKERWANDERUNG: Wie bleiben wir uns fremd genug?
In der „multikulturellen Gesellschaft“ dürfen mit den Ungleichheiten nicht auch die Unterschiede beseitigt werden. Das „Recht auf Diskriminierung“ – sich abzusondern und nur unter sich zu sein – ist genauso unabdingbar wie das Recht auf Gleichheit. Hierzulande hat die Politik in, mit und für Immigranten jedoch allzuoft eine sozialpflegerische Schieflage. Unsere „Gastarbeiter“ haben wir zu Kindern infantilisiert, die niemals erwachsen werden dürfen. Doch die ethnischen Minderheiten sind keineswegs nu Mühslige und Beladene, die der sozialpolitischen Betreuung bedürfen. Was wir vor allem brauchen, ist mehr Fremdheitskompetenz. ■ VON CLAUS LEGGEWIE
„... und darin war Kakanien, ohne daß die Welt es schon
wußte, der fortgeschrittenste Staat ...“
(Robert Musil: „Der Mann ohne Eigenschaften“, 1930)
Die „multikulturelle Gesellschaft“ haben wir schon. Die „Vielvölkerrepublik“, das neue Kakanien, müssen wir noch bauen. Vielvölkerrepublik nenne ich die politische Verfassung der Europäischen Konföderation, die (politische) Gleichheit in (zivilgesellschaftlicher) Verschiedenheit ermöglicht und die angstmachende Erfahrung einer „Gesellschaft von Fremden“ in zivile Bahnen ethnisch-kultureller Koexistenz lenkt – eine Art „innere KSZE“. Doch die Idee eines praktischen Zusammenlebens diverser Kulturen im 20. Jahrhundert steht heute unter der Evidenz praktischen Scheiterns: Das klappt nie!
Eine real existierende Vielvölkerrepublik in Europa, die jugoslawische zum Beispiel, geht gerade vor unser aller Augen zugrunde. Nationale Partikularismen zwischen den Teilvölkern, die ein zuletzt sozialistisch geprägter Universalismus überdeckt hatte, brechen in einer Weise hervor, die auf den ethnischen und in der Konsequenz religiösen Bürgerkrieg hinausläuft. Und wer heute noch einmal über das „amerikanische Dilemma“ (Gunnar Myrdal, 1944) schriebe, müßte auch wieder Ethnizität und Reethnisierung als wichtigste Mobilmachungskräfte ausmachen – wichtiger jedenfalls als Nation oder Klasse, die man in modernen Gesellschaften doch gemeinhin als ausschlaggebende Beweggründe von kollektiven Interessen und Gefühlsaufwallungen angenommen hat. Wer sich also die deutschen und europäischen Länder als Vielvölkerrepublik ausmalt, muß eine lange Liste gescheiterter Exempel mitreflektieren: „Durchmischung“ wird nicht nur in Bayern gefürchtet und „Entmischung“ nicht nur auf dem Balkan betrieben. Wie Fremde in politischer Gemeinschaft leben können, ist das „Megaprojekt“ des ausgehenden 20. Jahrhunderts.
Das erfordert Gelassenheit und institutionelle Phantasie, führt aber auch auf Grundsatzfragen des Politischen zurück. Hannah Arendt hat bekanntlich die eigenständige Sphäre des Politischen, des zweckfreien Handelns und Meinens unter Beteiligung aller, deutlich von den Bereichen der sozialen Öffentlichkeit und der Privatheit getrennt gehalten. Demnach ist der private Bereich von eklatanten persönlichen Unterschieden, mithin von Ausschließlichkeit bestimmt; die Sphäre der Politik ist als Bereich der staatsbürgerlichen Gleichheit davon strikt unterschieden. Die ganze „Zwischenabteilung“ der Gesellschaft, zwischen hochgradiger Partikularität und größtmöglicher Allgemeinheit, wird in ihren Augen aber von Diskriminierung geprägt. Arendt meinte freilich, daß „Diskriminierung ein ebenso unabdingbares gesellschaftliches Recht wie Gleichheit ein politisches ist“ (aus Anlaß von amerikanischen Rassenkonflikten in den 50er Jahren).
Das klingt schockierend, eröffnet aber beim genauen Lesen den Zugang zu einer Poltik multikultureller Gesellschaften, in denen nicht die Differenzen selbst beseitigt werden, wohl aber die Ungleichheiten, die darauf aufbauen. Wird in Massengesellschaften das Recht, sich abzusondern und nur unter sich zu sein – wie auch immer dies konkret begründet wird –, verweigert oder beseitigt, würde unter Auspizien der Gleichheit ein ungeheurer Konformitätsdruck erzeugt und Freiheit verloren gehen. Eine solche „Gesellschaft der gleichen“ ließe in der Tat nichts mehr zu wünschen übrig... „Es geht nicht darum, wie die Diskriminierung abgeschafft werden kann, sondern um die Frage, wie man sie auf den Bereich der Gesellschaft, wo sie legitim ist, beschränkt halten kann; wie man verhindern kann, daß sie auf die politische und persönliche Sphäre übergreift, wo sie sich verheerend auswirkt“ (Arendt).
In einem früheren Text (Wir Flüchtlinge) hat Hannah Arendt diese Dialektik von politischer Gleichheit und ziviler Selbstbestimmung an einer besonderen Gruppe von Flüchtlingen (zu der sie selbst zählte) illustriert: Die assimilierten Juden Europas vergaßen und verleugneten ihre Herkunft. Sie wollten weder daheim noch im Exil Juden sein – und beraubten sich damit eben jener Eigenschaft, wegen der sie angegriffen worden waren und aus der heraus sie, so Arendt, hätten Widerstand leisten können: ihres Judeseins. Toutes proportions gardées, läßt sich dieses Prinzip: Gleichheit in Verschiedenheit oder Integration und Autonomie als die eigentliche Herausforderung heutiger multikultureller Gesellschaften benennen, welche universalistische Prinzipien in kommunitären (also auch ethnisch getönten) Lebenswelten und Gesprächsnetzen verankern müssen. So könnten wir alle Bürger sein – und uns doch fremd genug bleiben. Um Gerechtigkeit zu schaffen im (weder heute noch morgen zu beseitigenden) Wohlstandgefälle zwischen Nord und Süd bzw. Ost und West, das ja die Wanderungsbewegungen ins Rollen bringt, muß man zu institutionellen Positivierungen gelangen, um die Ansprüche und Rechte von reichen westeuropäischen Einheimischen mit den wohl kaum weniger berechtigten Forderungen derer draußen vor der Tür zu vermitteln. Ferner müssen die Kosten für solche Leistungen innergesellschaftlich gerecht verteilt werden; überdies ist noch zwischen früher Eingewanderten und derzeit und künftig Einwandernden abzuwägen.
Dem extremen weltgesellschaftlichen Gefälle kann sich der, der nicht verzweifeln oder alles bloß auf die lange Bank schieben will, nur in lokaler Hinsicht stellen. Es gibt sowieso nicht „die“ für alle Welt geltende Gerechtigkeit, sondern mehrere Gerechtigkeiten im jeweiligen Kontext. Damit die Sache klappt, müssen jeweils „distributive Vorteile für jeden“ (Ottfried Höffe) entstehen. Das belegt ein Gedankenspiel: Wenn alle gleichzeitig von draußen an die hiesigen Fleischtöpfe strebten, wären diese auf der Stelle leer und mithin auch das ökonomische Emigrationsziel der Elendsflüchtlinge verfehlt. Dagegen die europäische Arche Noah einfach für überfüllt zu erklären, bringt einen nicht nur in moralische Klemmen; die damit zwangsläufig einhergehende Schließung der Grenzen würde die Voraussetzungen der offenen Gesellschaft mitzerstören.
Zwischen derart kontraproduktivem und autodestruktivem Kalkül ist die Politik bei uns aber eingeklemmt: zwischen dem gesinnungsethischen Postultat der absolut „offenen Grenzen“ und ängstlich- bornierter Abschottung. Gibt es einen Kompromiß, einen Mittelweg?
Lokale Gerechtigkeit wird vorbestimmt durch Zulassungsregeln und Mitgliedsrechte. Jede umgrenzte politische Gemeinschaft muß die Bedingungen der Zulassung möglichst einvernehmlich und nach außen verständlich regeln. In der Bundesrepublik und vielen anderen europäischen Ländern gilt eine doppelte Lebenslüge. Die Einheimischen behaupten tapfer: Wir sind kein Einwanderungsland.
Und die Immigranten bestätigen: Wir sind nicht eingewandert (und gehen morgen „nach Hause“, spätestens in einem Jahr oder so). Diese „kognitive Dissonanz“ machen manche Regierungen zur Maxime ihrer Politik: Weder hat die Bundesrepublik (oder Österreich oder die Schweiz) bisher Immigration aus demographischen oder arbeitsmarktpolitischen Gründen systematisch angereizt (worauf allerdings die frühere Anwerbepolitik in den Mittelmeerländern faktisch hinauslief und wofür nun einige Vertreter aus Wirtschaft und Politik ganz offen plädieren), noch hat sie folglich Maßnahmen ergriffen, um den Zustrom zu begrenzen und überhaupt irgendwie zu regulieren. (Sie hat allerdings indirekte Verfahren entwickelt, dies doch in einer zunehmend restriktiven Weise zu tun – wobei man sich allgemein die Frage stellen kann, ob demokratische Staaten überhaupt über Mittel verfügen, Wanderungsprozesse effektiv zu kanalisieren oder zu stauen, oder ob so nicht eine weitere Staatsillusion erweckt wird.) Aus diesem Grund haben wir unsere „Gastarbeiter“ infantilisiert – zu Kindern einer besonderen Art: Kinder, weil sie unter dem Diktat der Herren stehen, einer besonderen Art, weil sie nie erwachsen werden dürfen.
Einwanderung hält an und intensiviert sich in Deutschland auf im wesentlichen drei Wegen: unter Geltendmachung von Asylgründen nach Artikel 16 GG, unter Hinweis auf den Vertriebenenstatus oder abgeleiteter und analoger Aussiedleranrechte nach Artikel 116 GG und zusätzlich per „Nachzug“ von Familien früher eingewanderter Arbeitsmigranten und Flüchtlinge. Eine ernsthafte, nicht bloß auf Wahlkampfeffekte bedachte republikanische Einwanderungspolitik setzt einen ganzen Katalog von grundsätzlichen Überlegungen und pragmatischen Entscheidungen voraus:
–erstens eine Reform des Staatsangehörigkeitsrecht (das unsrige datiert von 1913), um Einbürgerungen, also die volle politische Partizipation der definitiv eingewanderten Bevölkerung, wenigstens nachträglich zu gewährleisten;
–zweitens die Schaffung eines Antidiskriminierungsrechts, das jenseits formaler Gleichstellung fortbestehende oder überhaupt erst entstehende Benachteiligungen von Einzelpersonen und Gruppen aus ethnischen oder religiösen Gründen negativ sanktioniert bzw. ihnen vorbeugt;
–drittens die Neufassung des überholten Flüchtlingsrechts, das den weltweiten Veränderungen der Exilmotive und Wanderungsdichte angepaßt ist und die Spezialität des deutschen Asylartikels trotz Rechtsharmonisierung um 1992 möglichst unbeschadet auf die supranationale Ebene hebt.
Die Probleme liegen natürlich im Detail. Auf Masseneinbürgerung, die jetzt vom in Kraft tretenden Ausländerrecht wie in der jüngsten Entscheidung der Bundesverfassungsrichter versteckt als Königsweg der Integration gewiesen wird, ist weder die deutsche Verwaltung noch der Kreis der Anspruchsberechtigten mental und organisatorisch eingestellt. So erklärt sich die bisher so geringe Zahl von Einbürgerungsvorgängen. Aber in allen Parteien regen sich die Befürworter. Unter der Voraussetzung, daß in den Einbürgerungsrichtlinien (letzte Fassung von 1977) und vor allem in der Einbürgerungspraxis sämtliche Anklänge verschwinden, die den Vorgang als ethnische Assimilation (“Germanisierung“) erscheinen lassen, ist Einbürgerung vor allem der hier geborenen Einwanderernachfahren in der Tat der beste Weg zur politischen Gleichheit und Beteiligung. Dabei muß ein zeitgemäßes europäisches Bürgerrecht endlich über den Schatten der schlecht angesehenen „Mehrstaatigkeit“ springen, die sich zum Beispiel als Folge der binationalen „Misch“-Ehen längst eingestellt und von vielen europäischen und überseeischen Staaten auch de jure akzeptiert wird. Überdies müssen Aufenthaltsrecht und Bürgerbeteiligung von Fremden auch unterhalb dieser Schwelle der vollen Staatsangehörigkeit gewährleistet sein; andere und weniger reiche westeuropäische Länder verfügen über wesentlich liberalere Ausländergesetze und lassen kommunales Ausländerwahlrecht zu.
Damit ist zweitens noch nicht über den „tatsächlichen“ sozialen Status und die „wirkliche“ kulturelle Freiheit der Minderheiten entschieden. In einer „polyethnischen Staatsorganisation“ (Otto Kimminich) müssen diese vor öffentlicher Diskriminierung in einer Weise geschützt werden, die über die bei uns üblichen Diskriminierungsverbote hinausreicht. Denn hier geht es nicht (allein) um individuellen Schutz vor Benachteiligung, sondern um kollektive Minderheitenrechte von Religionsgemeinschaften, Sprachfamilien und Kulturgruppen, konkret um den Bau von Moscheen, Religionsunterricht, Sprachpflege usw. (Man wird nicht viele Punkte finden, in denen die DDR-Verfassung der bundesdeutschen überlegen war; aber die slawische Volksgruppe der Sorben hatte bis zum 3. Oktober 1990 mehr Rechte und Möglichkeiten als danach – nous sommes tous des Sorbes non-allemandes...). Ob in diesem Zusammenhang wie in den USA auch systematische Kampagnen oder Maßnahmen „affirmativer Aktion“, also positive Diskriminierung, anzuraten sind, darf nach den einschlägigen Erfahrungen und hiesigen Offensiven für die Frauenquote bezweifelt werden. Eher wäre zu denken an gezielte „Hilfe zur Selbsthilfe“ durch Förderung ethnischer Nischenökonomien oder die exemplarische Beschäftigung von Einwanderern in öffentlichen Diensten und Betrieben sowie – eine gute deutsche Bildungstradition, die in Vergessenheit gerät – unterstützende Berufsqualifikation junger Einwanderer.
Grundprinzip jeder multikulturell ausgelegten Sozialpolitik muß aber sein, sich ethnischen Minderheiten nicht so zuzuwenden, als handele es sich bei ihnen um eine weitere Klientel Mühseliger und Beladener, unterschiedslos der Betreuung bedürftig und damit auf langfristige Abhängigkeit abonniert. Die ethnischen Gemeinschaften in Deutschland haben sich in den vergangenen Jahrzehnten bereits soweit ausdifferenziert, daß in ihnen längst prosperierende Meritokratien und Mittelschichten entstanden sind. Hilfestellungen des Sozialstaats für die anderen dienen nicht in erster Linie der Kompensation emigrationsbedingter materieller Notlagen bis in die x-te Generation hinein, sondern letztlich, wie bei der Grundsicherung als „Bürgergehalt“, dem Ausgleich kultureller Handicaps der Neubürger bei der Teilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten, also an der politischen Gemeinschaft der Bundesrepublik.
Der dritte Bereich betrifft die Dimensionierung künftiger Einwanderung unterschiedlichster Motivation. Am schwankenden Grundsatz: Politische Flüchtlinge genießen Asyl, darf dabei nicht weiter gerüttelt werden. Der gegenteilige Hinweis auf die geringe Anerkennungsquote ist demagogisch, wenn verschwiegen wird, daß das Gros der Abgewiesenen nicht aus „Laxheit“, sondern genau wie in anderen Ländern nach gültigen Konventionen des internationalen Rechts geduldet werden muß; wer gern über Asylmißbrauch klagt, hätte genügend Gelegenheit, sich an den zum Teil kriminellen Begleitumständen von Fluchten und Wanderungen (Stichwort: Schlepperorganisationen) abzuarbeiten.
Selbst bei Abschaffung des deutschen Asylrechts, das so außergewöhnlich in der europäischen Praxis gar nicht ist, würde der sogenannte „Wanderungsdruck“ nicht entfallen. Die hohen Zahlen „offensichtlich unbegründeter“ Bewerber sind vielmehr Ausdruck einer fehlenden sonstigen Regelung der Immigration nach Deutschland, entspringen also einer seit Beginn der 80er Jahre immer größer werdenden politischen Lücke, die die Nichtentscheidungsträger der beiden großen Parteien zu verantworten haben.
Es ist bemerkenswert, daß die einzigen pragmatischen Lösungsvorschläge der letzten Zeit, nämlich für ein Einwanderungsgesetz mit entsprechender Quotierung, im wesentlichen von einer Partei angestoßen wurden, die sich programmatisch zu „offenen Grenzen“ bekennt, den Grünen. Auch Lafontaine hat sich, nach einem quälenden Selbstverständigungsprozeß, dafür ausgesprochen. Eine für Immigration zuständige Behörde, möglichst auf höchster europäischer Ebene, dürfte nun solche in einem Einwanderungsgebiet unabwendbaren Auswahlverfahren nicht allein der begrenzten Rationalität und den kurzsichtigen Zahlenspielen von Arbeitsmarktpolitikern und Experten der inneren Sicherheit überlassen. Sie muß auch jene humanitären Standards respektieren, die in Europa durch parapolitische Akteure wie amnesty international und andere Menschen- und Bürgerrechtsgruppen geschaffen worden sind. Die Einwanderungsfrage erheischt einen „Runden Tisch“, an dem die ökonomischen, sozialpolitischen und humanitären Interessen an Einwanderung vermittelt werden. Der von Bundesinnenminister Schäuble benutzte Begriff eines „fairen Interessenausgleichs“ zwischen Inländern und Ausländern ist gewiß auch noch interpretationsfähig und –bedürftig.
Der vierte Bereich betrifft Artikulation und Repräsentation politischer Interessen der Einwanderer selbst; auch hier wäre zusätzliche institutionelle Phantasie vonnöten. Längst haben sich derartige Organe herausgebildet, an gewöhnlich peripherer Stelle mit meist marginalem Einfluß: Ausländerbeiräte und –parlamente, Ausländerbeauftragte auf Bundes- und Länderebene, darunter bis vor kurzem ohne große Nachwirkung beim Ministerrat der DDR, zuletzt ein kommunales „Amt für Multikulturelle Angelegenheiten“ in der Stadt mit dem bisher größten Ausländeranteil in Deutschland, Frankfurt am Main. Diese Institutionen haben in der Regel eine ausdrückliche Beteiligungs- und eine versteckte Klientelorientierung: Auf der einen Seite fungieren sie als Staats- oder Gemeindeorgane minderen Rechts, auf der anderen Seite sind sie als Anwälte sozialer Interessen spezifischer Einwanderergruppen (meist der ersten Generation) tätig. An sie richten sich folglich divergierende, zum Teil widersprüchliche Erwartungen einmal sozialpolitischer, zum anderen eher symbolisch-politischer Natur. Politik mit, von und für Immigranten ist hierzulande noch lange nicht auf der Höhe der Zeit; sie hat eine entweder sozialpflegerische oder ideologische Schieflage.
Einer zivilen Gesellschaft, die gern ihre Reife betont und zu Recht auf Entstaatlichung drängt, stünde es freilich schlecht zu Gesicht, sich zur Lösung einwanderungsbedingter Malessen und Krisen einzig an „den Staat“ zu wenden. Ob Xenophobie, institutionelle Diskriminierung und gewalttätiger Rassismus in diesem Land wieder Gestalt annehmen, hängt zwar nicht zuletzt vom politischen Handeln und Unterlassen bzw. der Redeweise öffentlicher Akteure ab. Welches Ausmaß das von ihnen inszenierte „Ausländerproblem“ annimmt, hängt aber auch davon ab, welche zivilgesellschaftlichen Barrieren und Tabus gegen den Rassen- und Religionskrieg errichtet werden.
Dolf Sternberger hat als Ziel aller Politik Friedenssicherung bezeichnet und das dazu Erforderliche Zivilität genannt. Bezogen auf die Vielvölkerrepublik heißt das: mehr Fremdheitskompetenz, geschärfte Urteilskraft jedes einzelnen und situationsbezogene Differenzierungskunst. Und immer gilt das ceterum censeo: Wer sich befreunden will, muß sich erst einmal befremden lassen.
Claus Leggewie ist Professor für Politikwissenschaften in Gießen und Berater des Amts für multikulturelle Angelegenheiten in Frankfurt.
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