DIE NEUE RECHTSCHREIBREFORM GIBT DER SPRACHE LUFT ZUM ATMEN : Das kreative Schreibchaos
Bundesbildungsministerin Annette Schavan wird wohl die Einzige sein, die nach eigenem Bekunden den neuen Duden mit in den Urlaub nehmen wird. Sie will sich mit der neuen Rechtschreibung vertraut machen, die heute in Kraft tritt. Die restliche Bevölkerung wird sich am Strand oder auf dem Balkon eher mit Temperaturfragen als mit den orthografischen Problemchen dieser Reform der Reform von 1998 befassen.
Verständlich. Denn nach zehn Jahren Hauen und Stechen um die Rechtschreibreform hat kaum jemand noch Lust auf Diskussion über Zusammen- und Getrenntschreibung, Trennregeln und Kommasetzung. Das Desinteresse ist in diesem Fall jedoch genau richtig: Denn unterm Strich markiert die Reform der Reform den Beginn vom Ende der normierten Rechtschreibung. In vielen Fällen darf nun nach der „alten“ und nach der Reform von 1998 geschrieben werden. Über 3.000 Varianten führt der Duden als Folge dessen auf. Viel „kann“, wenig „muss“.
Und soll keiner Sorge vor einem völligen Schreibchaos haben. Seit Jahren schreiben die meisten ohnehin, wie es ihnen gefällt. Nun kann man es endlich mit gutem Gewissen tun. Damit wird allein das zur Regel, was der Großteil der Bevölkerung an der Rechtschreibreform verstanden hat – und das ist wenig. In der Schreibanarchie, in der sich noch Goethe und Schiller austobten, sind wir damit zwar nicht angekommen. Aber die neu gewonnene Freiheit wird die Toleranz der Leser erhöhen, Schreibvarianten zu akzeptieren, die sie vorher noch nie gesehen haben. So könnte im Laufe der kommenden Jahrzehnte „von unten“ das erreicht werden, was die Rechtschreibreform nie erreicht hat: die Orthografie sinnvoller und einfacher zu gestalten.
Der Duden hat sich bereits auf diesen neuen Prozess eingestellt und empfiehlt erstmals in seiner Geschichte eine Schreibweise, wenn es mehrere Varianten eines Wortes gibt. Das ist schön, aber völlig unerheblich. Denn jeder kann sich sein eigenes Patchwork aus alter und neuer Rechtschreibung zusammenschustern. Die Zeitungen und Verlage machen es heute schon vor.
Die einzig Leidtragenden der Reform der Reform dürften die Schülerinnen und Schüler sein, die sich nach den Sommerferien wieder einmal auf ein neues Regelwerk einstellen müssen. Es wird an den Lehrern sein, die entstehenden Unsicherheiten zu nutzen, um einen kreativen Umgang mit Sprache und Schreibweise zu vermitteln. Aber dazu muss niemand den aktuellen Duden mit in den Urlaub nehmen. SASCHA TEGTMEIER