DIE NEUE BRILLE : Tschüss, Holzoptik!
Lange habe ich aus Geiz und dem durch nichts begründeten Glauben an das frühe Einsetzen der Altersweitsichtigkeit die Anpassung einer neuen Brille hinausgezögert. Die Fahrtanzeiger der U-Bahn konnte ich schon lange nur noch erkennen, wenn ich unter ihnen stand. Ein anderer Grund war vielleicht der: Auch nach Jahren kann ich nicht von meinem Modell „Ambassador“ in schwarz geriffelter Holzoptik lassen. Ich erzähle jedem, wie ich die Brille zuerst auf der Nase eines Freundes erblickt hatte und direkt am nächsten Tag aus Bayern kommen ließ. Liebe auf den ersten Blick.
Und nun habe ich eine neue. Sie ist auch ganz schön, runder eben, gefälliger. Das Gute an ihr: Sie erfüllt ihren Zweck. Die Bäume haben mit ihr Blätter bekommen, die Ampellichter drei verschiedene Farben, ich erkenne die Menschen auf der anderen Straßenseite. Aber nichts ist mehr an seinem Platz. Ich bin jetzt etwa drei Meter groß; wenn ich zu meinen Füßen hinabschaue, füllt sich mein Magen mit Wattebäuschen, denn ich leide unter Höhenangst. Eine Woche lang beiße ich also die Zähne zusammen, stolpere Treppen hinunter, trete neben Bürgersteige, greife an Gläsern vorbei. Dann haben wir uns aneinander gewöhnt.
Ein bisschen stolz dokumentiere ich die Neue. Weil ich es nicht schaffe, mich selbst zu fotografieren, mache ich ein Foto von meinem Spiegelbild. Das schicke ich an meine Mutter, denn die musste die horrende Rechnung des Optikers begleichen. Brav entschuldige ich mich für den ungeputzten Spiegel, denn Staub und Schmutz lassen mein Gesicht ganz grau aussehen. Meine Mutter ist dennoch entzückt. „Endlich siehst du aus wie eine junge Frau!“, schreibt sie euphorisch zurück. Freund B. verstört diese Antwort zutiefst. Bedrückt schielt er immer wieder zu mir herüber. Dann fragt er: „Wie hast du denn vorher ausgesehen?!“SONJA VOGEL