DIE KRITIKER HELFEN MERKEL, DIE GESUNDHEITSREFORM DURCHZUSETZEN : Minus und minus ergibt ein Plus
Heute wäre ein Tag, um Geschichte zu schreiben. Parlamentsgeschichte. Die Abgeordneten der Regierungsparteien könnten zeigen, dass sie mehr als Stimmvieh sind, wenn sie die sogenannte Gesundheitsreform stoppen, die von der Führungsclique der Koalition in nächtlichen Pokerrunden vereinbart wurde. Heraus kam ein fauler Kompromiss, der einzig der Gesichtswahrung der Beteiligten diente und eine Lösung der Probleme im Gesundheitswesen verschiebt. Ein „Nein“ dazu in den Fraktionen wäre eine Sternstunde des Parlaments.
Dieses Szenario ist äußerst unwahrscheinlich. Aber genau darin liegt das Problem. Die Zustimmung, die erfolgen wird, ist so offensichtlich unecht, dass sie das – ohnehin nur noch geringe – Vertrauen in die Funktionsfähigkeit der demokratischen Gesetzgebung weiter mindert. Bisher ist es weder Kanzlerin noch Gesundheitsministerin gelungen, den Sinn ihres Reformwerks zu erklären. Fragt man Politiker beider Regierungsparteien in vertraulichen Gesprächen nach den Vorteilen der geplanten Reform, reagieren sie, bestenfalls, mit einem Schulterzucken. Überzeugt ist niemand. Irrwitzigerweise liegt aber gerade in der allseitigen Unzufriedenheit der Grund, warum sich die Spitzen der Koalition keine Sorgen machen müssen. Nichts nützt Angela Merkel mehr als Kritik der SPD-Linken, um die eigenen Reihen zu beruhigen. Nichts diszipliniert wiederum die SPD-Mehrheit mehr als Kritik des CDU-Wirtschaftsflügels. Dass die anderen auch motzen, erleichtert allen das Ja.
Nach dieser kruden Logik macht minus und minus für die Regierung plus. Kurzfristig. Langfristig wird sich das Gefühl verstärken, dass alles besser wäre als eine Koalition, die sich so blockiert. Auch wenn es illusorisch war, einen goldenen Mittelweg zwischen Kopfpauschalen und Bürgerversicherung zu finden: Der Regierung ist es nicht einmal gelungen, jene Maßnahmen zu ergreifen, die in beiden Parteien Freunde hatten: Steuermittel für die Gesundheit auszugeben oder die Macht der Pharmaindustrie einzuschränken. Die Gewinner der Gesundheitsreform heißen deshalb FDP, Linkspartei – und leider auch NPD. LUKAS WALLRAFF