DIE EU-ORIENTIERUNG DER TÜRKEI IST GANZ IM SINNE VON WLADIMIR PUTIN : Stabilitätsfaktor Öl
Wenn das kein Zufall ist. Zwei Wochen bevor die EU ihre historische Entscheidung über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei treffen will, besucht erstmals seit der Zarenzeit ein russischer Präsident die Türkei. Doch wer glaubt, Putin wolle Ankara der EU abspenstig machen, liegt wohl falsch. Denn ganz im Gegensatz zur Ukraine dürfte Putin eine Integration der Türkei in die EU durchaus mit Wohlwollen betrachten.
Russland und die Türkei waren traditionell rivalisierende Mächte. Auf dem Höhepunkt seiner Macht kontrollierte das Osmanische Reich das Nordufer des Schwarzen Meeres und einen Teil des Kaukasus. Die abtrünnige Republik Tschetschenien hatte enge Verbindungen zum Osmanischen Reich. Noch heute leben viele Menschen tschetschenischer Abstammung in der Türkei. Für Spannungen sorgt das nicht mehr. Die Befürchtung im Kreml, nach der Wahl Erdogans könnte sich die Regierung mit den islamischen Wurzeln heimlich oder offen für die tschetschenischen Aufständischen engagieren, hat sich nicht bewahrheitet.
Die Regierung Erdogan verhält sich neutral und hat sogar im Vorfeld des Putin-Besuchs einige tschetschenische Aktivisten in der Türkei inhaftieren lassen. Für das neue Russland ist die Türkei heute ein viel versprechender Handelspartner und Transitland für russische Öl- und Gaslieferungen. Nach den Auseinandersetzungen im Kalten Krieg geht es Putin heute vor allem um Stabilität. Russland und die Türkei verbindet eine wichtige Gasleitung. Geplant ist auch eine neue Ölpipeline zwischen beiden Staaten. Da ist es Putin nur recht, wenn die Türkei politisch stabil bleibt und wirtschaftlich enger an den westeuropäischen Markt rückt. Auch mit Blick auf den Kaukasus setzt Putin auf die europäische Einbindung Ankaras. Eine mit Brüssel abgestimmte Außenpolitik ist Moskau allemal lieber als eine mögliche Konfrontation mit neu erwachten türkischen Nationalisten, sollten die EU-Ambitionen der Türkei scheitern. Insofern ist der Besuch des russischen Präsidenten natürlich kein Zufall, sondern eine indirekte Unterstützung der Türkei in Brüssel. JÜRGEN GOTTSCHLICH