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Archiv-Artikel

DIE DEUTSCHEN HABEN DEN WERT DES KINDERGARTENS NICHT BEGRIFFEN Bitte keine Tagesmutter-Ich-AGs

Nein, nein, ein Programm, das Langzeitarbeitslose zu Tagesmüttern umschule, werde es nicht geben, dementierte Wirtschaftsminister Wolfgang Clement nach der Kabinettsklausur in Neuhardenberg. Ein schönes Dementi. Denn ein Bundesprogramm braucht man ja auch gar nicht aufzulegen. Es reicht völlig aus, wenn die neuen Jobcenter Arbeitslosen vor Ort nahe legen, sich etwa als Tagesmutter-Ich-AG zu betätigen, ganz ohne Programm. Und genau das empfahlen Clement wie Parteichef Franz Müntefering den Arbeitsämtern.

Das inoffizielle Vorhaben „Arbeitslose zu Tagesmüttern“ passt exakt ins Bild der Minimalpolitik, mit der die Regierung die angeblich so überaus bedeutsame Kinderfrage bedenkt. Zwar hat sie stets betont, dass es für das Bildungsniveau deutscher Kinder vor allem auf eine qualifizierte Kinderbetreuung ankäme. Doch das entsprechende Gesetz, das das Kabinett diesen Mittwoch verabschieden wird, geht darauf kaum ein.

Folgt man der Rhetorik der Familienministerin Renate Schmidt, hätte das Gesetz mindestens die Modernisierungslücke zwischen Deutschland und dem Rest Europas schließen müssen. Der Unterschied zwischen Pisa-Gewinner Finnland und Verlierer Deutschland besteht ja unter anderem darin, dass die Finnen dem Kind ab seiner Geburt einen Rechtsanspruch auf Bildung einräumen. Entsprechend qualifiziert sind die BetreuerInnen der Kleinkinder. Die ErzieherInnen haben drei Jahre an einer Uni studiert – mit Praxisbezug. In den Kitas werden vier Kinder von einer Person betreut, und zwar, nebenbei bemerkt, bis zu zehn Stunden am Tag. Auch die finnischen Tagesmütter werden doppelt so lange ausgebildet wie deutsche.

In Deutschland gibt es Kitas mit 20 Kindern pro Betreuer. Der Abschluss an einer deutschen Erzieher-Fachschule wird inzwischen in fast keinem europäischen Land mehr anerkannt, weil alle anderen akademisch ausbilden. Deutschland hinkt bei der Kleinkindpädagogik um Jahrzehnte hinterher. Und das Betreuungsgesetz ändert daran nichts: Kein Rechtsanspruch auf Betreuung und Bildung, keine bessere Erzieherausbildung. Stattdessen noch mehr Tagesmütter, für die noch nicht mal ein Plan zur Qualitätsverbesserung besteht.

Es ist schon lange her, dass die Idee des Kindergartens aus Deutschland in alle Welt exportiert wurde. Friedrich Fröbel wollte 1837 mit seinem ersten Kindergarten zeigen, dass weder die damals übliche „Bewahranstalt“ fürs Proletariat noch das unausgebildete Kindermädchen der Oberschichten den Bildungsbedürfnissen von Kindern Rechnung tragen. Ausgerechnet die Deutschen haben diesen Gedanken wohl nie richtig begriffen.

HEIDE OESTREICH