DIE BAUBRANCHE VERDIENT GUT, DIE BAUARBEITER VERDIENEN MEHR : Eine Frage der Selbstbehauptung
Es könnte so schön sein: Nach elf Leidensjahren boomt Deutschlands Baugewerbe endlich wieder und ein neuer Tarifvertrag ist so gut wie unter Dach und Fach. Trotzdem stehen die Zeichen auf Streik, denn Teile der Arbeitgeber wollen den Mitte Mai ausgehandelten Schlichterspruch nicht akzeptieren: „Zu teuer und zu unflexibel“, begründeten gestern die Arbeitgeber des Baugewerbes in Niedersachsen und Schleswig-Holstein ihr Nein.
Der Schritt ist ein Affront gegen die zweitgrößte deutsche Gewerkschaft IG BAU und setzt einem beispiellosen Tarifkonflikt die Krone auf. In dessen Mittelpunkt stehen vor allem die zerstrittenen Arbeitgeber: Während die Unternehmen der Bauindustrie der Lohnsteigerung von rund 3,5 Prozent zugestimmt haben, stellen sich die regionalen Verbände des Bauhandwerks auf die Hinterbeine. Sie wollen den Abschluss im Nachhinein nicht nur billiger haben, sondern beharren auf noch mehr Öffnungsklauseln für einzelne Betriebe. Dabei können die Unternehmen unter dem Vorbehalt ihrer wirtschaftlichen Lage schon jetzt acht Prozent von den vereinbarten Tariflöhnen abweichen. Für die IG BAU ist es eine Frage der Selbstbehauptung, dieser Provokation die Stirn zu bieten. Denn die Branche profitiert schon im zweiten Jahr vom Aufschwung. Umsätze und Auftragseingänge haben in diesem Jahr bislang um knapp 20 Prozent zugelegt. Der Boom ist noch mindestens bis 2009 gesichert, sagen Analysten voraus.
Es ist illusorisch zu glauben, die Baubeschäftigten, die in Ostdeutschland kaum über den Mindestlohn von 12,40 Euro für Fachkräfte hinauskommen, nicht an diesem Erfolg beteiligen zu müssen. Die Bauhandwerker können ihren Forderungen auch mehr Nachdruck verleihen als etwa die streikenden Angestellten der Telekom: Während deren Call-Center-Mitarbeiter mit dem Druck leben müssen, leicht austauschbar zu sein, droht der deutschen Baubranche schon jetzt ein Fachkräftemangel. Doch die Arbeitgeber im Bauhandwerk gehen ganz offensichtlich davon aus, den Flächentarifvertrag weiter schwächen zu können und die Löhne in den Keller zu schrauben. Nun wird sie ein kaum mehr vermeidbarer Streik daran erinnern, dass sich die Zeiten geändert haben. TARIK AHMIA