: DIE APOKALYPSE
■ Alex Chilton & Band im Loft
Das Geräusch kam näher und näher, immer näher, und in meiner Vision tat sich ein Schlund auf, geifernd und sabbernd, stinkend nach Schweiß und Blut und verbranntem Fleisch, und ich tauchte hinein. Und doch war es sanft und angenehm und voll gleißendem Licht, ganz so, als wäre die Sonne sehr nah, und ich begriff nicht, ob ich mich in der Hölle befand oder in einem Paradies, das einer Phantasie entsprang, die nicht meine eigene war und die mir doch durch den Dampf hindurch nicht fremd erschien. Mir blieb jedoch gar nicht die Zeit, mich lange zu fragen, wo ich war, denn auf der Bühne standen nun vier Männer, die vom Zenit ihres Lebensweges nicht mehr allzuweit entfernt schienen, und nahmen all meine Aufmerksamkeit in Besitz.
Jesus war es, der die Gitarre hielt und gar lieblich sang, unvergeßbare Weisen mit Namen wie „Bangkok“, „September girls“, „Can't seem to make you mine“ oder „The letter“, unterstützt von den himmlischen Heerscharen, die aber plötzlich von ihm abzufallen schienen und schwankend wurden wie Ähren im Wind. Und Jesus verlor seine göttliche Luzidität, die ihm doch eigentlich de patri gegeben ist. Statt dessen erschien er mir wie Luzifer, prächtig geschmückt und vor Waffen aus Schmiedeeisen starrend wie eine Heerschar, jederzeit bereit, alles zu vernichten, das ihm keine ähnliche mystische Kraft entgegenzustellen vermochte. Aus den äußeren Sphären drang eine Musik herunter, die in all ihrer täuschenden, glatten Lieblichkeit ihre gesamte zerstörerische und apokalyptische Intention verbarg. Im nächsten Moment tat sich ein mörderischer Abgrund auf und vernichtete das Böse und den aus ihm geborenen Antichristen, rottete es aus, und im Gefolge erschien ein Thron, umspielt von weißem, reinen Licht. Und auf diesem Thron saß ER. ER, der Herr der Herrscher. ER, die reine, unverfälschte Wahrheit. ER, die unendliche Güte. ER, der Anfang aller Anfänge und das Ende und das Ende zu setzen.
Aber trotz des hellen und einsichtigen Blickes, der mir gegeben war in meiner Vision, wagte ich nicht zu entscheiden, ob das, was da wie Phönix aus der Asche auferstanden war, besser sei als die scheinbar verdammenswürdige Inkarnation des Teufels, da doch beide aus ein und derselben Person entsprangen. Daß ich so heftig zwischen derart widersprüchlichen Seelenregungen schwankte, mag auch darum sein, weil das, was ich empfand, so sehr der heiligen Liebe glich. Nur der wahre Glaube konnte mich noch retten und mir geistliches Heil bringen in dieser Situation. Und der Gedanke, daß die Welt wahrlich gut und bewunderswert ist. Noch in den scheußlichsten Ungeheuern offenbart sich die Güte Gottes. Ja, ich gestehe es als der Sünder, der ich bin. Meine befangene Seele quoll über von einer spirituellen Rührung für den Schöpfer und die Regeln dieser Musik, und mit freudiger Andacht bewunderte ich die Größe und Stabilität der Schöpfung. Und bebend und tief bewegt wandte ich mich zum Himmel, hob die Hände und betete. Und die Engel antworteten mir, und meine Vision war zu Ende.
Thomas Winkler
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