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Archiv-Artikel

DIE ANSCHLÄGE IN RUSSLAND SPIELEN DEM KREML IN DIE HÄNDE Instrumentalisierter Terror

Im neoautoritären System des Putinismus wird nichts dem Zufall überlassen. Politik ist nur noch ein Akt der Inszenierung und des Sich-in-Szene-Setzens. Mit bewundernswerter Offenheit nennen die politisch Verantwortlichen in Moskau dieses Spiel auch „gelenkte Demokratie“, wobei sie den Akzent auf das Beiwort setzen. Damit simulieren sie Kompetenz und Lenkungsfähigkeit, auch wenn so einiges aus dem Ruder läuft. Dass dies jedoch nicht unter die Leute kommt, dafür sorgen Myriaden von Lakaien in Russlands neuem Nachtwächterstaat. Terrorakte von einem Ausmaß wie der gestrige in der Moskauer Metro lassen sich aber auch unter größten Anstrengung nicht vertuschen. Seit Sommer vergangenen Jahres ist es der vierte Anschlag in der Hauptstadt, die blutigen Terrorakte draußen im Lande und der alltägliche Terror in Tschetschenien nicht mitgerechnet.

Die Attentate erinnern nicht nur die Bürger daran, dass ihnen der Präsident einst Sicherheit und Ordnung versprochen hatte. Sie führen auch dem Kreml vor Augen, dass die potemkinsche Attrappe des neuen Russlands auf tönernen Füßen steht. Mit versteinerter Miene droht die Entourage des Kremlchefs, der immer mehr Leute vom Fach angehören (Militärs und Geheimdienstler), nach jedem neuen Blutbad, die Terroristen mit Stumpf und Stiel auszumerzen. Doch nichts geschieht und so verbreiten sie die ewig gleichen Unwahrheiten: Die vertriebene Regierung des Präsidenten Maschadow stünde hinter den Verbrechen.

Der Kreml hat ein gewaltiges Problem: Er kann weder die vermeintlichen noch die wahren Täter festsetzen. Stellt er die angeblichen Drahtzieher, geht der Krieg trotzdem weiter. Stellt er die wahren, entlarvt er sich selbst. Daher gibt es für den Kreml keine Alternative zum Krieg. Jeder neue Terroranschlag spielt ihm somit in die Tasche und lässt verschärfte Maßnahmen im Kaukasus als gerechtfertigt erscheinen. Denn die öffentliche Meinung, das wäre wohl auch in gestandenen Demokratien nicht anders, verlangt nach solchem Grauen nicht nach einem neuen Diskurs. So sind die Attentate das Einzige, was der Kreml nicht inszenieren kann, und doch passen sie bestens in seine Dramaturgie. KLAUS-HELGE DONATH