DER WEIBLICHE BLICK : 13.30 Uhr, geschenkte Zeit
INES KAPPERT
Seit einer Woche sind sie pünktlich ab 13.30 Uhr bei uns: Selten schöne, immer aber fettfreie, flinke Männerkörper, die Kraft ausstrahlen. Das ist angenehm, mich entspannt Fußballgucken ungemein. Viele, zumal Frauen, suchen sich bei einer WM ihre Lieblinge zusammen, überprüfen ihr Beuteschema, stellen Veränderung zum letzten Turnier fest und lernen wieder etwas über sich selbst.
Mein Narzissmus funktioniert anders. Ich genieße den Stimmungswechsel, der nun täglich zum Anpfiff in der Redaktion, auf den Straßen, in den Lokalen einsetzt. Mitten am Tag, es ist noch nicht mal heiß, hält kaum einer sich oder seine Arbeit noch für das Allerwichtigste. Unaufgeregt wird das Unerledigte aufgeschoben, setzt man sich vor die Leinwand und plaudert mit anderen Dahergelaufenen. Nichts ist existenziell, und auch der ewige „Was-bin-ich-doch-im-Stress-Talk“ bleibt aus.
Kein totaler Spaß
Die Arbeit machen schließlich die anderen: die Spieler, die Kommentatoren und das Servicepersonal, sie haben den Stress und kämpfen gegen die Uhr an. Uns hingegen schenken die Zeitsoldaten nach Mittag ein freundlich gesinntes Zeitkorsett. Eines, das nach Bier oder Weißweinschorle verlangt, das auf Verlangsamung besteht und Gemeinschaft stiftet. Leistungsdruck und Konkurrenz, die Schmiermittel der Arbeitswelt, dem mächtigen Kollektiv der Fußballgucker gelten sie nichts.
Prima ist auch, dass wir noch nicht mal den totalen Spaß haben müssen, um Gefallen am eigenen Leben zu finden, um uns souverän zu fühlen. Wenn das Spiel langweilig ist, ist es eben so.
Lange war Fußballbegeisterung für mich ein Rätsel, Männerkram, absurd. Wie viel verlorene Zeit, dem Protestantismus mutwillig in den Rachen geworfen! Nur weil ich dachte, ich müsste die Spiele und die Spieler und die Taktik und was weiß ich noch alles ernst nehmen. Und das kommt ja bis heute nicht in Frage, aber das ist ja auch nicht der Punkt. Der Punkt ist die Erfahrung, mehrmals am Tag die Geschwindigkeit zu wechseln und den allzu vertrauten Tunnelblick gegen eine andere Perspektive einzutauschen. Natürlich tut dieser Wechsel auch allen Fußballfeinden gut. Ihnen gehören dann die Büros ohne Fernseher, die Straßen, die Kinos, auch das platte Feld.
Eines müssen wir allerdings noch hinkriegen. Denn die deutschen Fernsehkommentatoren haben ja noch immer nichts begriffen. Man denke nur an das Spiel Südafrika gegen die „Urus“ (Netzer). Unverdrossen kotzen sie ihre Unlust über die vorenthaltene Unterhaltung ins Mikrofon. Klar, sie sind ja noch in der anderen Zeitzone. Und wenn sich Spaß und Spannung nicht pünktlich einstellen, wenn die gestressten Topverdiener für ihre Aufmerksamkeit nicht sofort entlohnt werden, dann nehmen sie das persönlich. Doch diese ironiefreie Besserwisseraggression und witzlose Top-Down-Kommunikation kann in der prekären Gemeinde der Zeitmillionäre da draußen niemand gebrauchen. Sie verletzt unsere ohnehin zarte Gelassenheit.