DER TÜRKISCHE NATIONALISMUS GEFÄHRDET EU-BEITRITTSGESPRÄCHE : Erdogan hält nicht mehr Kurs
Bundeskanzler Schröder sagte vor seinem Besuch in der Türkei, dass in dem Land ein Mentalitätswandel notwendig sei. Doch dieser Begriff, im Zusammenhang mit dem türkischen Reformprozess, ist nicht Schröders Erfindung, sondern die des türkischen Ministerpräsidenten Tayyip Erdogan.
Erdogan ist im Moment in einer schwierigen Situation. Zum ersten Mal seit seinem Wahlsieg im November 2002 läuft es schlecht für ihn. Im In- und Ausland hagelt es Kritik. Der Mann, der noch im letzten Jahr als großer Reformer gelobt wurde, sieht sich plötzlich von Feinden umzingelt. Ein Teil seiner Partei meutert, die Masse der Bürger klagt, dass trotz hoher Wachstumsraten keine neuen Arbeitsplätze geschaffen würden, und von Brüssel hört er statt Anerkennung nur noch Mahnungen.
Es ist verständlich, dass Erdogan angesichts dieser neuen Situation nervös ist, doch der Premier selbst offenbart zurzeit eine Mentalität, die nach seinen eigenen Maßstäben dringend des Wandels bedarf. Seit Wochen verklagen Erdogans Anwälte reihenweise Journalisten, Karikaturisten und selbst Vorsitzende konkurrierender Parteien wegen Verleumdung oder falschen Anschuldigungen. Auf Kritik aus Brüssel antwortet Erdogan erbost, die EU solle erst einmal ihre Versprechen gegenüber Nordzypern einhalten. Am bedenklichsten aber agiert der Ministerpräsident im Zusammenhang mit der nationalistischen Hysterie, die vor einigen Wochen über die Türkei gekommen ist wie die Kapitalismusdebatte über Deutschland. Statt die Vision eines modernen europäischen Staates dagegenzuhalten, schwieg er erst und stellte sich dann, wie in der Armeniendebatte, an die Spitze der nationalistischen Regression.
Vor dem Mentalitätswandel im Land steht der Mentalitätswechsel an der Spitze der Regierung. Schröder wird heute mehrmals mit Erdogan zusammentreffen. Statt über Reformen im Allgemeinen sollte er mit ihm über konkrete Äußerungen der letzten Wochen reden. Denn eins ist klar: Wenn schon die Regierung Erdogan nicht mehr Kurs hält, werden Beitrittsgespräche ziemlich unergiebig werden. JÜRGEN GOTTSCHLICH