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Archiv-Artikel

DER TOD IM TREPPENHAUS Süßlich und grau

Fast hätte ich gekotzt, aber ich entschied mich dagegen

Normalerweise sagt D. durch die Gegensprechanlage immer nur Hallo. Diesmal sagt er: „Hallo. Warte mal. Du musst ganz schnell hochrennen, im Haus ist jemand gestorben, das stinkt.“ Vor Schreck schnappe ich nach so viel Luft, wie ich kann, und renne hoch. Ich hätte ihn auch runterbitten können, der Dieffenbachkiez ist voll von Cafés, da hätten wir überall hingekonnt. Aber nun rannte ich schon. Und D. wohnt im dritten Stock.

Es ist unmöglich, bei sieben Treppen nicht einmal zwischendurch Luft zu holen. Nach der vierten Treppe konnte ich nicht anders und atmete. Die Fenster im Treppenhaus atmeten genauso tief ein wie ich, aber es half nichts. Der Tod riecht süßlich und grau. Spätestens jetzt hatte ich den ganzen Leichengestank nicht nur an mir, sondern auch in mir. Fast hätte ich gekotzt, aber ich entschied mich dagegen. Sonst hätte ich noch länger gebraucht. Nur noch zwei Treppen. Oben stand D. hinter der geschlossenen Tür. Er machte erst auf, als er hörte, dass ich oben war. Dann öffnete er die Tür ungefähr 20 Zentimeter, ich hechtete hinein, er machte zu.

Es war sein Nachbar im ersten Stock. Gewesen. Verwest. Bis man die Leiche fand, war schon ein Monat vergangen. Erst hatte der Gestank Alarm geschlagen, und als dieser unerträglich wurde, die Nachbarn. Jemand rief die Feuerwehr, diese sagte der Kripo Bescheid. Niemand hatte ihn gekannt. Niemand hatte gemerkt, dass er seine leeren Flaschen nicht mehr in den Hof trug. Auch sein nachbarschaftliches Knurren hatte keiner vermisst.

Inzwischen atmete ich wieder normal. Mein Lungeninhalt vermischte sich mit der Wohnungsluft. Die Wohnung roch trotzdem wie sonst nach Sägemehl und verbranntem Kaffee. Also alles gut. Der Mann ist im Juli gestorben. Durch das Treppenhaus muss man immer noch rennen. Aber so gedenkt seiner wenigstens jemand. CATARINA VON WEDEMEYER