DER KURDEN-KONFLIKT IST EINE BELASTENDE HYPOTHEK FÜR DIE TÜRKEI : Testfall Öcalan
Für die türkische Regierung kommt es zurzeit knüppeldick. Noch ist der Streit um die Anerkennung Zyperns nicht ausgestanden und die Aufforderungen, den Völkermord an den Armeniern anzuerkennen, noch frisch im Gedächtnis, da liegt schon die nächste europäische Zumutung auf dem Tisch: ein neuer Prozess für den Staatsfeind Nummer eins, Abdullah Öcalan.
Gefährlich für die Regierung Erdogan ist weniger der konkrete Spruch aus Straßburg. Letztlich geht es dabei um eine Formalie – der Prozess wird wiederholt, am Ergebnis wird sich nichts ändern. Gefährlich ist, wie sich im Land derzeit eine Stimmung aufschaukelt, die zu neuen gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Türken und Kurden führen könnte.
Zunehmend mehr erweist sich dieser Konflikt, der mit der Verhaftung Öcalans vor sechs Jahren eben nicht beendet wurde, als die eigentliche Hypothek des Landes. Wäre der Streit um die Rechte der kurdischen Minderheit gelöst, könnte der Prozess gegen Öcalan heute unter rein strafrechtsprozessualen Gesichtspunkten behandelt werden. Dem ist aber nicht so. Zwar hat man den Kurden in den letzten Jahren das Recht auf ihre Sprache und Medien teilweise zuerkannt, doch der eigentliche Streit tobt heftiger denn je. Im Kern geht es darum, ob das Ziel darin besteht, die individuellen demokratischen Rechte aller Bürger der Türkei gegenüber dem Staat zu verbessern, oder ob es kollektive Rechte für ethnische Gruppen geben soll.
Das Dilemma der Regierung Erdogan ist, dass sie sich zwar für den ersten Weg entschieden hat, den bislang aber nicht so konsequent umgesetzt hat, dass sie die Mehrheit der kurdischen Bevölkerung gewinnen und von den Extremisten isolieren konnte. Die Neuauflage des Öcalan-Prozesses macht diesen Weg nicht einfacher, birgt aber die Chance, dem kompromissbereiten Teil der Kurden zu zeigen, dass die Justiz gewillt ist, auch einen Abdullah Öcalan fair zu behandeln. Die Neuauflage des Prozesses wird so zum Test dafür, ob Erdogan auf Reformkurs bleibt oder in den Chor der Nationalisten einstimmt. JÜRGEN GOTTSCHLICH