DER KAPITALISMUS HAT SEINE EIGENEN MÄRCHEN : Die Fiktion und ihr Soziales
ISOLDE CHARIM
Der Film „Searching for Sugarman“ über einen verkannten Musiker, der in den USA ein hartes Leben als Bauarbeiter führt, ohne zu ahnen, dass er und seine Musik in Südafrika Kultstatus besitzen – dieser Film erzählt nicht nur die reale Geschichte des Sixto Rodriguez, er erzählt auch das Märchen unserer gegenwärtigen Gesellschaft. Nirgendwo erfährt man mehr über die Verfasstheit einer Gesellschaft als in ihren Sehnsuchtserzählungen.
Vom Tellerwäscher zum Millionär – das war das Märchen des industriellen Kapitalismus und seiner alten demokratischen Gesellschaft. Das war die Story einer durchlässigen Leistungsgesellschaft, in der jeder aufsteigen kann, wenn er nur will. Dazu brauchte es nicht Talent im qualitativen Sinn, sondern Geschick und Durchsetzungsvermögen. Es war die Illusion des Selfmademans und die Vorstellung, der Maßstab für Erfolg sei Geld.
Das ist aber längst nicht mehr das Märchen unserer gegenwärtigen Gesellschaft, dieser „Gesellschaft der Singularitäten“, wie sie der Franzose Pierre Rosanvallon in seinem neuen Buch „Die Gesellschaft der Gleichen“ – einer der interessantesten Neuerscheinung dieses Frühjahrs – bezeichnet. Singularität meint einen neuen Individualismus mit seinen „durch und durch persönlichen Existenzen“. Die Menschen werden heute, so Rosanvallon, mehr von ihrer persönlichen Geschichte als von ihrer sozialen Lage bestimmt. So kann dasselbe Milieu zu den unterschiedlichsten Lebenswegen führen. Unsere jeweilige Lebensgeschichte prägt uns heute viel mehr als unsere Herkunft oder Klasse. Singulär ist dieser Individualismus also, weil es um den Einzelnen in seiner spezifischen Besonderheit geht.
Wobei diese Singularität zugleich ein Faktum und eine Sehnsucht ist. In einer Gesellschaft von Singularitäten richtet sich das Verlangen darauf, in den Augen der anderen etwas zu bedeuten, in seiner Besonderheit mit seiner Geschichte gewürdigt zu werden. Kurzum – in einer solchen Gesellschaft ist Anerkennung die zentrale Währung.
Die Geschichte des Sixto Rodriguez ist die Geschichte einer Passion und einer modernen Erlösung. Das Leben als Bauarbeiter ist eine doppelte Passion: physisch in seiner Härte und psychisch in seiner Unsichtbarkeit. Was aber die Erlösung ist, das zeigt der Höhepunkt des Films: Das erste Konzert, das Rodriguez in Südafrika gibt, hat eine religiöse Dimension. Für die Südafrikaner, weil der aus unerfindlichen Gründen totgeglaubte Rodriguez wiederauferstanden zu sein scheint. Für ihn, weil er erstmals – nach langen Jahren im Verborgenen einer bitteren Existenz – im emphatischen Sinne gesehen wurde: Er wurde erkannt als der, der er ist.
Erlösung heißt in unserer Gesellschaft Wahrgenommenwerden, in seiner spezifischen Besonderheit gesehen werden. Das ist eine neue Form von Vergesellschaftung, die paradoxe Vergesellschaftung nicht des Einzelnen, sondern als Einzelner. Was früher die Aufhebung von Entfremdung leisten sollte, das ist heute das Anerkanntwerden in seiner Singularität. Der Star ist natürlich der Höhepunkt solcher Singularisierung, das Märchen unserer „Gesellschaft der Singularitäten“. Warhols 15 Minuten Ruhm für jeden ist deren allgemeine Formel.
Erfolg misst sich nicht mehr nur in Geld, wie in der Gesellschaft des alten Kapitalismus. Im Zeitalter der Singularitäten ist die Währung für Erfolg die Anerkennung. Deshalb hat die Geschichte des lange verkannten Sixto Rodriguez alle Ingredienzien, die Leidens- und Sehnsuchtserzählungen unserer Gesellschaft zu verdichten. Das macht sie zu dem Märchen unserer Zeit.
Und es ist eine mittlerweile banale, aber immer wieder erstaunliche Feststellung, dass solch eine Geschichte zugleich das Märchen des Widerstands als auch jenes des Erfolgs ist. Der Regisseur hat den Film – so die Legende – mit einer 1-Dollar App für Super-8-Filme gedreht. Vom Tellerwäscher zum Star. Es ist kein Wunder, dass der Film einen Oscar gewonnen hat.
■ Isolde Charim ist freie Publizistin und lebt in Wien