DER FALL FILBINGER IST ZUM FALL OETTINGER GEWORDEN : Ganz normale Opportunisten
Es lohnt sich, einen genauen Blick auf die Trauerrede zu werfen, die Baden-Württembergs Ministerpräsident Oettinger auf seinen verstorbenen CDU-Parteifreund Hans Filbinger gehalten hat. Wir lesen: Filbinger, eigentlich ein Nazi-Gegner, habe sich den Zwängen des Regimes ebenso wenig entziehen können „wie Millionen anderer Deutscher“. Er sei wie viele andere „schicksalhaft“ in Situationen hineingeraten, die den Menschen „heute zum Glück erspart bleiben“. Oettinger will uns das Bild eines Normalbürgers suggerieren, der sein Leben in schrecklicher Zeit meisterte und kaum etwas am Lauf der Dinge hätte ändern können.Uns, den Nachgeborenen, stehe eigentlich kein Urteil zu.
Insbesondere in seinen Rollen als Ankläger und als Richter in Militärgerichtsverfahren habe Filbinger „keine Entscheidungsmacht oder aber keine Entscheidungsfreiheit“ gehabt. Wirklich? Nein. So etwa im Fall des Matrosen Walter Gröger, der desertiert war und für den Filbinger kurz vor Kriegsende die Todesstrafe forderte. Hier hätte er entweder das Todesurteil verhindern können, indem er auf dem ursprünglich milderen Urteil im ersten Verfahren bestanden hätte. Oder er hätte, falls er damit nicht durchgedrungen wäre, die Bestätigung des Urteils um einige Wochen verzögern können – bis zum nahen Kriegsende. Beides wäre für ihn ohne persönliches Risiko gewesen.
In Oettingers Version des Normalbürgers unter dem Nazi-Regime fehlt eine einfache Kategorie – die des Handlungsspielraums. Gerade die Wehrmachtsausstellung hat uns gezeigt, dass es solche Handlungsspielräume dort häufig gegeben hat, wo bislang die Alternativlosigkeit des Befehlsvollzugs behauptet worden war. Dies galt auch für die Tätigkeit der Justiz im Dritten Reich.
Filbinger war gerade deshalb der „furchtbare Jurist“, als der ihn Rolf Hochhuth zu Recht tituliert hat, weil er ein ganz normaler Militärjurist war und als ganz normaler Bestandteil der Mordmaschine funktionierte. Es bringt nichts, ihn als sadistischen Nazi zu bezeichnen, wie Hochhuth es jetzt tut …
Warum Sadismus unterstellen, wenn durchschnittlicher Opportunismus, pflichtgemäßes Verhalten ausreichten, um Terrorjustiz auszuüben? Filbinger war SA-Mann, in die NSDAP trat er 1937 ein, die braune Uniform trug er genauso eifrig wie die Insignien der Militärjustiz. Nach dem Krieg war er wieder Christ und geißelte die Mordkommandos der SS gegen „Wehrkraftzersetzer“ kurz vor Kriegsende in Brettheim als „himmelschreiendes Unrecht“. Gut, das war nicht die Wehrmacht, sondern die SS, eine verbrecherische Organisation. Filbinger kann also kein Verbrecher gewesen sein, sondern nur ein ganz normaler Deutscher. Meint der ganz normale Oettinger. CHRISTIAN SEMLER