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Archiv-Artikel

DER ERFOLG BEI DER FUSSBALL-EM WIRD GRIECHENLAND KAUM VERÄNDERN Wunder dauern etwas länger

Die Hobby-Zeitgeschichtler in den Redaktionen wittern ihre große Chance. Fünfzig Jahre nach dem „Wunder von Bern“ wollen sie das „Wunder von Lissabon“ ausrufen, dieses Mal für die Griechen. Fünfzig Jahre nach dem angeblichen Erweckungserlebnis der Nachkriegsdeutschen biete sich Griechenland die Chance zum gesellschaftlichen Aufbruch. Doch gemach, gemach. Der Vergleich hinkt nicht einmal, er kommt erst gar nicht auf die Beine. Die Griechen von heute sind nicht die Parias Europas, die nach 1945 die Deutschen aus eigenem Verschulden waren. Auch liegt Griechenland nicht in Trümmern, sondern ist mitten dabei, die Olympischen Spiele zu stemmen.

Aber weit wichtiger ist ein zweiter Grund. Es ist zwar wunderbar, was Otto Rehhagel von „seinen Jungs“ berichtet: „Früher machte jeder, was er will, jetzt macht jeder, was er kann.“ Das ist für die ehemals so chaotischen Nationalkicker eine Revolution. Aber die lässt sich auf die Gesellschaft nicht so schnell übertragen, wie es auch viele Athener Intellektuelle erträumen. Wunder, die ein ganzes Land umwälzen sollen, dauern etwas länger. Und der Anstoß durch ein vorzüglich eingestelltes Fußballteam reicht nicht aus, um etwa die Einsicht zu wecken, dass eine Bürokratie nur funktioniert, wenn kompetente Kräfte auch optimal eingesetzt sind.

Die heutige griechische Gesellschaft ist durch die Maxime, die aus Rehhagels Mund eher altmodisch klingt, revolutionär überfordert. Bevor jeder machen kann, was er kann, muss er an die richtige Stelle gelangen. Das aber ist in einer Gesellschaft, die Erfolgschancen über Klientelbeziehungen verteilt, das große Problem: Hier ist nicht entscheidend, was man kann, sondern wen man kennt.

Otto Rehhagel hat immerhin ein Beispiel gesetzt. Mit dem ihm eigenen Sendungsbewusstsein bewarb er sich, ganz ohne Beziehungen, beim griechischen Fußballverband per Selbstinserat. Was viele inzwischen vergessen haben: Er bekam die Stelle nur, weil kein Grieche für das vermeintliche Himmelfahrtskommando zu haben war. Aber die Zufallsbewerbung eröffnet eine Chance, die für Griechenland realistischer ist als der Traum vom plötzlichen Ende der Klientelgesellschaft. Dass ein Ausländer im Zusammenwirken mit einem heimischen Potenzial von intelligenten Fußballspielern etwas Neues zustande bringt, könnte das Verhältnis der modernen Hellenen zu „dem Ausland“ verändern. Die eingefleischte Xenomanie, also die Sucht, vom Ausland anerkannt zu werden, dem man zugleich die Fähigkeit abspricht, die Seele der Griechen zu verstehen, könnte einer gelasseneren Haltung weichen. NIELS KADRITZKE