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DEBATTEGibt es auch zu viele Italiener?

■ Die Massenflucht von Albaniern nach Italien ist Ausdruck mächtiger wirtschaftlicher und sozialer Prozesse und epochaler Ungleichheiten

Wollte man die Lage nur mit dem armseligen Instrumentarium der derzeitigen italienischen Politik messen, hätte der stellvertretende Ministerpräsident Claudio Martelli wohl recht, wenn er verlangt, daß man „den Hahn zudrehen“ und die albanischen Flüchtlinge einfach zurückweisen sollte. Setzt man dieses Instrumentarium weiterhin zur Regelung eines anschwellenden Zustromes ausgehungerter Flüchtlinge ein, würde sich in der nächsten Zukunft etwa folgendes Szenarium einstellen: starke Spannungen zwischen Italienern und Albaniern, Kasernierung letzterer in immer unzureichenderen und weiter heruntergekommenen Aufnahmelagern, alarmierende Zustände hinsichtlich der kollektiven Gesundheit und Sicherheit. Ich wiederhole: All das ist unvermeidlich, wenn man dieser neuen Notlage mit dem herkömmlichen Instrumentarium begegnen möchte. Die Ernennung ausgerechnet dieses Zivilschutzministers Vito Lattanzio zum Kommissar für die albanischen Flüchtlinge scheint freilich geradezu als böse Bestätigung der schlimmsten Befürchtungen.

Wenn das die Generallinie sein sollte, wenn das die Entscheidungsträger sein sollten, bleibt wirklich nichts anderes übrig, als „den Hahn zuzudrehen“ (wobei man freilich fragen sollte, wieso der Vize-Regierungschef eine derartig herabsetzende Redewendung benutzt, wenn er von Menschen spricht). Trotzdem ist es auch dann lächerlich zu glauben, man könne auf diese Weise die Sintflut aufhalten.

Die Strategien des Numerus clausus und des Abblockens der Migrationsströme entspringen allesamt aus einer im Grunde „optimistischen“ Einschätzung: Man tut, als ob es sich einfach um touristische oder grenznahe Bewegungen handele, die man mit militärischen Mitteln abwehren oder kontrollieren kann. Tatsächlich handelt es sich dabei jedoch offenkundig um mächtige demographische, wirtschaftliche und soziale Prozesse, Ergebnisse epochaler, kolossaler Ungleichheiten. Mithin um Tendenzen, die wesentlich stärker sind als jedwede gesetzliche oder polizeiliche Maßnahme.

Doch die politische Herrscherkaste Italiens nimmt weiterhin an, der Numerus clausus für die Nicht-EG- Bürger arabischer und afrikanischer sowie albanischer Herkunft sei eine Frage politischer Entscheidungen und von Grenzkontrollen: während in den Vereinigten Staaten und in Frankreich sich schon viel früher als in Italien gezeigt hat, wie sich alles, was nicht aufgenommen und nicht geregelt wurde — weit davon entfernt, deshalb jenseits der Grenzen zu bleiben —, in Klandestinität und Illegalität verwandelt hat.

Die Frage muß also umgekehrt werden. Es geht, zuvörderst, nicht darum, zur Solidarität aufzurufen (die natürlich notwendig ist) oder Schuldkomplexe zu erzeugen (die sicher auch begründet sind). Vielmehr geht es zuallererst um politischen Realismus und um eine Einsicht in die wirtschaftlichen und sozialen Prozesse. Die Wanderungsbewegungen werden sich alle noch verstärken, von Osten nach Westen, von Süden nach Norden, von Jugoslawien und vom Maghreb, im Gefolge der Auflösung der kommunistischen Regime und der vielen Golfkriege, aus elementarer Not oder aufgrund von despotischer Herrschaft.

Die Lehren aus früheren Wanderungsbewegungen und die Erfahrungen anderer Länder sollten uns vor allem von einem überzeugen: es ist immer wesentlich rationeller (und auch leichter), diese Ströme zu leiten und zu lenken, als sie zu blockieren versuchen. Vorausgesetzt natürlich, daß man — und zwar sofort, von heute an — entsprechende Maßnahmen anwendet. Mithin: Sofort, von heute an, muß ein Teil der Fonds für Zusammenarbeit und Entwicklungshilfe dafür verwendet werden. Natürlich kann man das nicht mit einem Federstrich durchführen, aber das Ganze ist eine Frage politischen Willens, nicht administrativer Prozeduren. Es ist ja bekannt, daß die immensen Summen für die Hilfsprogramme zugunsten armer Länder zu einem Gutteil korrupte oder autoritäre Regime finanziert haben — oder aber auch politisch-bürokratische Apparate unseres eigenen Landes. Unterstützen wir nun, wie es viele vorschlagen, die albanische Wirtschaft, um den Grund für die Massenflucht zu entziehen, so ist das auf dem Papier zwar vernünftig, doch es garantiert, wieder einmal, keineswegs, daß diese Hilfen auch gut angewendet werden. Während wir nun darauf warten, daß angemessene Kontrollsysteme die Nutzung der Fonds für Zusammenarbeit überwachen, wäre es wohl nützlich, einen Teil der Gelder auf jene Dritte und Vierte Welt zu übertragen, die uns da in unser Land immigriert. Andererseits sollte das „italienische Prestige“, von dem man in diesen Wochen soviel und über Gebühr redet, dafür verwendet werden, die internationalen Einrichtungen und die der EG in ein Hilfsprogramm einzubinden. Es ist nicht einzusehen, warum Europa im Krieg zu gemeinsamem Handeln findet, nicht aber, wenn seine eigenen Grenzen explodieren. Warum soll Italien Solidarität zeigen, wenn es Krieg gibt, nicht aber, wenn es um eine „Friedensmission“ geht wie bei der Aufnahme dieser Masse Enterbter? Bei denen es, zuallererst, wirklich um Aufnahme geht.

Die Schwierigkeiten sind sicherlich enorm. Und es ist offenkundig, daß Apulien alleine dem Druck Zehntausender Flüchtlinge nicht standhalten kann; und es ist auch klar, daß Notaufnahmelager nicht in ständige Einrichtungen umgewandelt, die erste Hilfe nicht zur Dauerregel werden kann. Wenn die Kriterien für die Einsätze (die man früher angewandt hat und jetzt Lattanzio wieder anwenden will) nicht radikal verändert werden, sind auch ein paar hundert Albaner schon zuviel. Auch Italiener gibt es nämlich schon zu viele. Luigi Manconi

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