DEBATTE: Brasilia an der Spree?
■ Zur Mesalliance von Nostalgikern und Bürokraten in der Hauptstadtfrage
Am Anfang steht eine semantische, aber zugleich doch ganz praktische Frage: Wie wird der Bundestag im Volksmund wohl heißen, wenn er einige Jahre im Berliner Reichstag, inzwischen vielleicht gar wieder um die im Krieg zerstörte Pickelhaube verschönt, getagt haben wird? Sofort nach dem Fall der Berliner Mauer im November 1989 erhoben sich die Stimmen, die nun dem sich abzeichnenden wiedervereinigten Deutschland endlich eine richtige, nämlich die alte, Hauptstadt verpassen wollten: Berlin. Jetzt, wo Deutschland wieder so groß sei, jetzt brauche es eine „richtige Hauptstadt“. Eine richtige Hauptstadt könne nur das ebenfalls wiedervereinigte Gesamt-Berlin, mit mehr als drei Millionen Einwohnern die mit Abstand größte Stadt der neuen und größeren Bundesrepublik Deutschland, sein.
Im kollektiven Gedächtnis der Bundesbürger wird da an ein merkwürdiges Gemisch von Erinnerungen und Überlieferungen gerührt. Zum einen an Preußens Gloria und die Gründerjahre und zum anderen an die 20er Jahre, in denen Berlin tatsächlich so etwas wie ein kultureller „melting pot“ Ost- und Mitteleuropas war. Wobei allerdings nur allzu gerne vergessen wird: Die Grundlage für beides wurde durch die Deutschen von ihrer Hauptstadt Berlin aus zerstört: die Weltmacht durch den ersten Weltkrieg und die kulturelle Mittelstellung durch die Vernichtung jener sozialen und kulturellen Schicht, die sie überhaupt erst ermöglichte, nämlich das mitteleuropäische Judentum.
Wo soll der Sitz des Parlaments, der Ministerien und der Regierung sein? In der Auseinandersetzung um diese Frage werden die handfesten, materiellen Argumente gerne mit kulturellen, historischen Argumenten überwölbt. Da gibt es einmal die kühne These: Schon seit dem westfälischen Frieden sei Preußen und dessen Hauptstadt Berlin die heimliche Führerin jener Geschichte, die schließlich in der Gründung Deutschlands als moderner Staat münde. Was spielt es für eine Rolle, wenn hier, um nur ein Beispiel zu nennen, die demokratische, liberale Tradition, die ihren historischen Nährboden eher in den südwestdeutschen Kleinstaaten als im autoritären Preußen hatte, einfach vergessen wird? Oder auch jene Resolution von mehr als 30 Gemeinden und Städten aus der ehemaligen Kurpfalz, darunter auch Mainz, die zu Beginn des letzten Jahrhunderts der Demokratie wegen den Anschluß an Frankreich wollten. Bösartig könnte man sagen: Es fällt einem Sozialdemokraten halt schwer, die Wirklichkeit gewissermaßen von der Kleinflächigkeit und Vielschichtigkeit her zu betrachten. Was bei der Analyse der Hauptwidersprüche übersteht, das wird eben einfach abgesäbelt.
Aber neben den traditionalistischen Argumenten gibt es eine gewißermaßen sanfte, demokratische Variante zur Begründung der kulturellen Einzigarigkeit Berlins — was dann auch begründen soll, daß der Regierungs- und Parlamentssitz hierher verlegt werden müsse. In der Vergangenheit sei Berlin ja nicht nur die Zentrale des Terrors, sondern auch die des Widerstandes gewesen. Hier sei es am allerwenigsten möglich, der Geschichte auszuweichen, und auch heute könne man nur in Berlin die sinnliche Erfahrung des Zusammenstoßes der beiden sozialen Welten Europas, nämlich zwischen Ost und West, machen. Hier könnten sich die Politiker nicht den drängenden Problemen der osteuropäischen Armut und den sich daraus ergebenden Verpflichtungen entziehen. Allerdings, die Idee, nur in Berlin seien diese Erfahrungen möglich und nicht — beispielsweise — in Hof oder Regensburg, ist verräterisch. Es ist das linke Spiegelbild jenes bürokratischen Zentralismus, der die alte Hauptstadt schon immer als Nabel der Welt sah.
Dem liegt nichts ferner als die Vorstellung, für das neue, größere Deutschland gehe es weniger um die Zentralisierung als vielmehr um die— demokratischen Prämissen sehr viel angemessenere — Vernetzung der unterschiedlichen Erfahrungen und Geschichten. Wie es ein scharfsinniger Kritiker einmal gesagt hat: Und wenn es kein einziges gutes Argument gegen Berlin gäbe, die Argumente der Befürworter reichten allemal aus, gegen die Verlegung der Regierung nach Berlin zu sein. In der Debatte vermischen sich auf seltsame Weise zwei Typen von Argumentationen. Zum einen gibt es die politische und auf das föderativ aufgebaute Gemeinwesen Bundesrepublik Deutschland bezogene Frage: Mit welchem Parlaments- und Regierungssitz ist ihm und der Demokratie am besten gedient? Die andere Frage ist eine urbanistische, sozial- und kulturpolitische. Sie bezieht sich auf das durch den Fall der Mauer offen zutage getretene Problem, daß Berlin seit den Zeiten als „Schaufenster des Westens“ keine wirklich überzeugende Idee mehr für seine Bestimmung als Metropole, die es ja ohne Zweifel ist, zu entwickeln vermochte. Berlin braucht eine neue Idee für seine Gestaltung. Konzepte wie das von der Dienstleistungsmetropole sind bisher nicht viel mehr als Slogans.
Wenn jetzt diese zweite Frage einfach damit beantwortet wird, Berlin müsse Haupstadt werden, dann zeugt das von Gedankenlosigkeit. Der demokratische Prozeß kann und darf nicht in anderen Gesichtspunkten relativiert werden. Aber genau das täte man ja, wenn man die Frage des Parlaments- und Regierungssitzes der zweiten Bundesrepublik Deutschland dem urbanistischen und sozialpolitischen Gesichtspunkt unterordnete, was denn nun aus Berlin werden solle. Und auf der anderen Seite ist „Hauptstadt“ nicht schon an sich ein Konzept, es sei denn, man dächte einzig an die dann — wie man hofft — ungehemmt fließenden Gelder für einen bürokratischen Wasserkopf.
Als politisches Argument für Berlin wird auch gerne angeführt, dann könne nicht mehr an den Interessen der Menschen aus der ehemaligen DDR vorbeiregiert werden. Da möchte einem doch zunächst das Gegenargument einfallen: Und was ist mit den Interessen der westdeutschen Bevölkerung? Nein, so geht es nicht. Zumal dieses Argument nicht einer pikanten Pointe entbehrt: Der demokratische Umschwung in der DDR war nicht zuletzt eine Bewegung weg von Berlin. Und die soll nun wieder in die Hauptstadt Berlin münden? Mit Sicherheit wäre für die Demokratie in Deutschland, und die konnte sich in den letzten 40 Jahren nicht zuletzt dank des Föderalismus und der Westbindung, für die Bonn steht, entwickeln, eine Lösung wie der Wallmann-Plan vernünftig. Der sieht eine Verteilung der staatlichen Funktionen derart vor, daß Bonn Regierungs- und Parlamentssitz wird, der Bundespräsident in Berlin residiert, in der Frankfurter Paulskirche der Bundesrat plenar tagt, Weimar die Kultusministerkonferenz und Dresden das Wissenschafts- und Technologiezentrum erhält.
Bonn sollte die Amtsstube oder bürokratische Käseglocke auch in der neuen Bundesrepublik bleiben. Eine Gefahr, es könne versuchen, alles, was schön und teuer ist, an sich zu ziehen, geht von ihr sicher nicht aus. Würde auf der anderen Seite der Parlaments- und Regierungssitz nach Berlin verlegt, dann käme sicher nicht allein deswegen die Industrie wieder nach Berlin zurück, wie die Berlin-Befürworter gerne suggerieren. Aber es würde mit aller Macht und allen guten und schlechten Argumenten versucht werden, Berlin zu dem Repräsentationsort Deutschlands zu machen. Daß damit die Vielfalt der föderalen Bundesrepublik und auch ihre innere Kohäsion, die nicht zuletzt auf dem Lebensgefühl beruht, daß eine Stadt wie Bielefeld eine hervorragende Oper oder Tauberbischofsheim das Leistungszentrum der deutschen Fechter besitzen kann, letztlich in Frage gestellt wird, das liegt auf der Hand. Warum sollen denn die, aus großberlinischer Sicht immer wieder gerne so abgestempelten, westdeutschen „Krähwinkler“ die Berliner „Großmannssucht“ auch noch finanzieren?
Es bleibt zu hoffen, daß die Mesalliance von Nostalgikern des Berlins der 20er Jahre und autoritären Bürokraten sich nicht durchsetzen wird. Für die demokratische Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland kann dies nur ein Vorteil sein — und für die schnelle Angleichung der äußeren Lebensverhältnisse in Ost und West auch. Ulrich Hausmann
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen