DEBATTE: Gib einem Faschisten eine zweite Chance — er wird sie nutzen
■ Die Kurden und das Schweigen der Golfkriegsgegner
Reinhard Mohr stellt in der taz die Frage, warum den streitbaren Geistern in Deutschland zu den Kurden nichts einfällt, warum die Intellektuellen, die eben noch von Talkshow zu Talkshow wanderten und mit ihren Essays die Zeitungen füllten, auf einmal schweigen. Die Frage ist berechtigt, nur müßte sie an die richtigen Adressaten gestellt werden. Fragen wir zum Beispiel die Abgeordnete Vera Wollenberger, die zu Beginn des Krieges zu einer Reise nach Syrien und Jordanien aufbrach und nach ihrer Rückkehr in die Bundesrepublik von „Millionen Toten“ sprach, die dieser Krieg kosten würde.
Fragen wir sie, wann sie sich auf den Weg in das türkisch-irakische Grenzgebiet machen wird, um die Gräber der Kurden zu zählen. Fragen wir den Brandenburger Bischof Forck, der mit „klugen, freundlichen Worten“ Saddam entwaffnen wollte, was ihm jetzt zu Saddam Hussein einfällt. Fragen wir die engagierten jungen Leute, die überall in Berlin während des Golfkrieges Tag und Nacht Mahnwachen hielten, warum sie jetzt eine Handvoll Kurden allein im Regen an der Gedächtniskirche stehen lassen.
Fragen wir Walter Jens, der zwei amerikanische Deserteuere in seinem Haus versteckte und darüber sogleich die dpa informierte, wie viele kurdische Flüchtlinge er nun bei sich aufnehmen wird. Er hat neulich den bemerkenswerten Satz geschrieben: „Die kleinen Leute in Kuwait und Israel, Juden und Araber, zahlen die Zeche..., wir sollten ihrer gedenken. Ihr Schicksal ist auch unseres.“ Wer sich aus der Sicherheit seines Reihenhauses dermaßen schamlos zum Opfer stilisiert, sollte seine Interlübke-Wohnlandschaft umgehend gegen eine Pritsche in einem Notzelt des Technischen Hilfswerks tauschen.
Fragen wir die Friedenskämpfer, die sich vor Ausbruch des Krieges als „lebende Schutzschilder“ nach Bagdad begaben, ob sie nicht ein kleines Friedenslager im kurdischen Siedlungsgebiet aufschlagen möchten, um die irakische Armee von weiteren Angriffen auf die wehrlosen Zivilisten abzuhalten. Fragen wir Lothar Baier, der so hervorragende Essays schreibt und der sich darüber beklagte, daß die Bilder, die uns im Fernsehen gezeigt wurden, „viel zu unspezifisch“ wären, „um als Bilder dieser Kriegsrealität zu gelten“, fragen wir ihn, ob die Bilder der fliehenden Kurden, der Menschen, die sich um ein Stück Brot schlagen, der Mütter, die hilflos ihren Kindern beim Sterben zusehen, der Väter, die ihre toten Kinder begraben, ob diese Bilder spezifisch genug sind, um seine Anteilnahme zu provozieren. Oder fragen wir ganz allgemein: Warum gehen heute nur ein paar klägliche tausend auf die Straße, um gegen den Völkermord an den Kurden zu demonstrieren, während sich zur Zeit des Golfkrieges täglich Zehntausende durch die Straßen wälzten und „USA — internationale Völkermordzentrale“ skandierten? Oder noch allgemeiner: Was wäre in diesem Lande los, wenn die Bilder, die wir täglich im Fernsehen sehen können, mit der Erklärung geliefert würden, für dieses Elend seien die Amerikaner bzw. die Israelis verantwortlich? Vielleicht könnte uns der Philosoph Ernst Tugendhat eine überzeugende Antwort auf diese Frage geben, der sich vor gut zehn Jahren für den „atomaren Erstschlag“ aussprach, noch im letzten Jahr die Vorzüge der Euthanasie anpries („... im negativen Interessse der Behinderten, im positiven Interesse aller“) und heuer, im begründeten Vertrauen auf das kurze Gedächtnis der Zeitungsleser, zu einem Friedensapostel mutierte, der es den Amerikanern nicht verzeihen kann, daß sie ihn vor den Nazis gerettet haben.
Wer angesichts des Völkermordes an den Kurden, mit süffisantem Grinsen und klammheimlicher Genugtuung, aus dem Stillhalten der Amerikaner den Schluß zieht, deren militärisches Eingreifen im Irak sei politisch sinnlos und moralisch verwerflich gewesen, der will sein Ressentiment neu verputzen. Ebenso gut könnte man den Alliierten im WK 2 die Invasion in der Normandie verübeln, weil sie es unterlassen haben, gleich danach oder davor Auschwitz zu bombardieren.
Es ist absurd, wenn jene, die zur Zeit des Golfkrieges die weißen Bettlaken aus den Fenstern hängten, nunmehr die Amerikaner auffordern, zum Schutze der Kurden militärisch einzugreifen. Wer eben noch erklärt hat, es könnte keinen gerechten Krieg geben, der soll sich mit einem Bild von Mutter Teresa und einem Buch von Franz Alt in die nächste alterative Teestube verziehen und die nächsten zehn Jahre drin bleiben. Allein die Kriegstreiber und Bellizisten, die dafür plädierten, Saddam Hussein in den bewaffneten Arm zu fallen, haben das Recht, jetzt die amerikanische Politik zu kritisieren, den Amerikanern Versäumnisse vorzuwerfen.
Wenn die Souveränität Kuwaits und die Sicherheit Israels Kriegsgründe waren, dann ist es das Leben der Kurden nicht minder. Der Einwand, man wolle sich nicht in die inneren Angelegenheiten des Irak einmischen, ist sachlich falsch und moralisch unhaltbar. Jede Bombe, die auf Bagdad abgeworfen wurde, war eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Landes.
Der Völkermord an den Kurden gehört nicht zu der Kategorie der „domestic affairs“, die vom Recht auf ungestörte Entfaltung der staatliche Souveränität geschützt werden. Wenn ein Hausbesitzer seine Kinder totschlägt, dann werden ihn seine Nachbarn daran zu hindern versuchen, auch wenn sie sein Recht auf eine geschützte Privatsphäre massiv verletzen müssen.
Nicht, daß die Alliierten den Krieg angefangen haben, ist ihnen anzulasten, sondern daß sie ihn zu früh beendeten. Zu den „nötigen Grausamkeiten“, die gleich zu Anfang hätten begangen werden müssen, hätte der Sturz von Saddam Hussein gehört. Das kann, das muß nachgeholt werden. Wer einem Faschisten eine zweite Chance gibt, der darf sich nicht wundern, daß er sie auch ergreift. Henryk M. Broder/Eike Geisel
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen