DEBATTE: Reden, nicht schießen
■ Nicht die UNO muß reformiert werden, sondern das politische Denken über sie muß anders werden
Im Laufe des Jahres noch will die Bundesregierung das Grundgesetz ändern, damit bundesdeutsche Soldaten weltweit im Rahmen der Vereinten Nationen eingesetzt werden können. Bonn richtet sich offenbar darauf ein, daß die Vereinten Nationen, jene so lange und besonders in Deutschland vergessene internationale Organisation, zum Hüter der von Präsident Bush verkündeten „Neuen Weltordnung“ werden, zu einer Mischung aus Friedensrichter und Weltpolizist. Diese Aussicht mag hoffnungsfroh stimmen, sie ist aber leider falsch. Die UN sind nicht der Weltpolizist — und sollen es auch nicht werden.
Die vom Sicherheitsrat in seiner Resolution 678 genehmigte Gewaltanwendung zur Vertreibung des Iraks aus Kuwait wird vermutlich einmalig bleiben. Zwar hatte es noch nie zuvor eine solche Einmütigkeit zwischen den fünf Ständigen Sicherheitsratsmitgliedern gegeben, niemals eine derartige Kooperation zwischen den USA und Moskau, kaum zuvor eine so einhellige Verurteilung des Iraks durch die Weltöffentlichkeit (sieht man einmal von der Kritik am sowjetischen Einmarsch in Afghanistan ab). Es wäre schön, wenn all dies so bliebe. Aber im Mittleren Osten mußten noch das Öl hinzukommen, dieser besondere Saft, und die strategische Empfindlichkeit des Persischen Golfs. Sie haben die UN- Aktion ausgelöst; sie hätten eine amerikanische Aktion ausgelöst, wären die UN nicht eingeschritten. Ohne die USA wäre keine UN-Aktion entstanden.
Dieser Unterschied ist fein, aber wichtig. Der Golfkrieg war keine UN-Aktion wie in Artikel 42ff. der UN-Charta beschrieben, er war eine vom Sicherheitsrat genehmigte Gewalthandlung einer Koalition. Legal und legitim wie sie war, wäre sie eine UN-Aktion erst dann geworden, wenn die Staaten ihre Streitkräfte dem Sicherheitsrat unterstellt hätten, dessen Generalstabsausschuß dann den Krieg geführt haben würde. Das wird es aber auch in Zukunft nicht geben: Kein Staat, und schon gar keine Supermacht, wird nationale Streitkräfte einem internationalen Kommando übergeben.
Nicht nur in diesem Punkt irrte das VII.Kapitel der UN-Charta. Das gesamte Konzept der Kollektiven Sicherheit ist ein Mythos, und nicht einmal ein schöner. Wo seine Mechanismen eigentlich gebraucht würden, nämlich im Verhältnis zwischen den Groß- und Industriemächten, funktioniert das Konzept entweder nicht, weil es durch das Veto verhindert wird, oder weil diese Mächte, wie es gegenwärtig der Fall ist, gar keinen Konflikt untereinander haben. Die Bestrafung eines bewaffneten Potentaten der Dritten Welt aber fällt nun wahrlich nicht in die Kategorie der „Kollektiven Sicherheit“, bestenfalls in die der Kollektiven Verteidigung. Wer genauer hinsah, entdeckte im Golfkrieg eine fatale Ähnlichkeit mit den Strafexpeditionen des Mächtekonzerts des 19.Jahrhunderts.
Nein, der Beitrag der Vereinten Nationen liegt nicht in den Zwangsmaßnahmen des Kapitels VII, nicht in der Bestrafung der Aggression. Das Konzept der Kollektiven Sicherheit entstammt einer irrtümlichen Zwangsvereinigung zwischen dem Gedanken der internationalen Organisation einerseits, den Funktionsprinzipien des europäischen Gleichgewichts andererseits. Geht man auf das Konzept der internationalen Organisation zurück, so zielt es nicht auf die Bestrafung der Aggression, sondern auf deren Verhinderung. Prävention, nicht Sanktion, heißt die Devise.
Allerdings kann die internationale Organisation nicht die gesamte Vorbeugungsarbeit leisten. In der Welt gibt es fünf Gewaltursachen, und nur gegen eine, gegen die Anarchie des internationalen Systems, greift die internationale Organisation. Diese Ursache ist zwar unsichtbar, aber von fataler Wirksamkeit. Aus der unaufhebbaren Ungewißheit über die Absichten der jeweils anderen Seite entstehen Rüstung, Gegenrüstung, Rüstungswettläufe und schließlich Krieg. Dieses „Sicherheitsdilemma“ (John Herz) ist strukturbedingt, also nicht aufhebbar. Aber es kann gemildert, abgeschwächt werden. Genau zu diesem Zweck haben die politischen Theoretiker, allen voran der Abbé de Saint Pierre, die internationale Organisation erfunden. Wenn sich die Staaten nicht mehr isoliert gegenüberstehen, sondern organisiert zusammenarbeiten, entstehen Information und relative Sicherheit über die Absichten der anderen, wird Ungewißheit reduziert. Die internationale Organisation kann nicht die gleiche Übersichtlichkeit schaffen, wie sie im Innern eines Staates herrscht; sie kann aber Annäherungswerte erreichen. Sie kann staatliches Verhalten nicht erzwingen, wohl aber in der Kooperation beeinflussen. Damit läßt sich aufkeimende Gewalt sehr wohl abwenden. „Group-in“ nannte Castlereagh im 19.Jahrhundert das Verfahren. Die Praxis der KSZE hat seit 1975 bewiesen, welch reale politische Wirkungen damit erzeugt werden können. Die Theorie der Internationalen Beziehungen steuert den Gedanken bei, daß geregelte Kooperation die erfolgreiche Alternative zur militärischen Gewalt im internationalen System darstellt.
Die internationale Organisation kann also sehr viel, sie kann das Sicherheitsdilemma reduzieren, die internationale Politik entmilitarisieren, abweichendes Verhalten beeinflussen. Um sie zu solchen Leistungen zu veranlassen, bräuchte man die Vereinten Nationen nicht zu reformieren, man muß sie nur aktivieren. Allerdings in der richtigen Weise. Der Sicherheitsrat sollte nicht zu einer Art Weltregierung hochgeredet werden, die er nach dem Stand globaler Interdependenz weder sein kann noch soll. Statt dessen sollte die Vollversammlung von einem Resonanzkörper umfunktioniert werden in das „Rathaus der Welt“ (Vandenberg), in dem die Gewalt erzeugende Politik beredet und behandelt wird. Die Bundesrepublik kann auf einen Sitz im Sicherheitsrat bequem verzichten, wenn sie sich statt dessen als Motor dieser Zusammenarbeit betätigte.
Freilich ist das Sicherheitsdilemma nur eines der insgesamt fünf Gewaltursachen. Die anderen liegen in den autoritären Strukturen der Herrschaftssysteme, den davon begünstigten Expansionsinteressen politisch-gesellschaftlicher Akteure; sie liegen in der Dynamik der Interaktion und schließlich in der mangelnden strategischen Kompetenz der Akteure. Gegen diese Ursachen ist die internationale Organisation machtlos, gegen sie müssen andere Strategien angewendet werden, vor allem die der Demokratisierung.
Gegen das Sicherheitsdilemma aber, die zweifellos größte einzelne Gewaltursache, hilft gerade und nur die internationale Organisation. Sie ist so stark wie die Staaten, die in ihr vertreten sind, es wollen. Nicht die Vereinten Nationen also müssen reformiert werden, sondern das politische Denken über sie. Ernst-Otto Czempiel
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