piwik no script img

DEBATTE„Das Alte stürzt“

■ Die Menschenrechtsfrage als politische Herausforderung und Chance

Das Alte stürzt, die Mitte hält nicht mehr; bare Anarchie bricht aus über die Welt“, dichtete W.B.Yeats in Der jüngste Tag. Chinua Achebe wählte diese Zeilen als Motto für seinen 1958 erstmals veröffentlichten Roman Things Fall Apart, der hierzulande unter dem Titel Okonkwo oder Das Alte stürzt 1983 seinen Weg in die Buchläden fand. Darin wird der Niedergang dörflicher Clan-Gemeinschaft der Ibo und der Zerfall ihrer Sozialbindungen unter dem Modernisierungsdruck des Kolonialsystems im Zuge der Integration in die von diesem geschaffenen gesellschaftlichen Strukturen geschildert. Heute scheinen dieselben Verszeilen Gültigkeit für den umgekehrten Zerfallsprozeß beanspruchen zu können: Sowjetunion, Jugoslawien und kein Ende — die „Dritte Welt“ hat in Europa Einzug gehalten. Die — in historischer Perspektive gar nicht so alten — zentralstaatlichen Herrschaftsinstanzen sind dabei, ihre Wirkung als Kohäsionsfaktor zu verlieren, die allzu oft nur auf „erfundener Tradition“ und repressivem Gewaltmonopol basierte.

Partikularismen allerorts — und die damit allzu häufig verbundenen Gewalttätigkeiten, um nicht zu sagen Kriege — trüben den Blick für Gemeinsamkeiten. Selbst der Erhalt des Restbestands an tropischem Regenwald, Ozonloch, Ozonwerte und andere Dauerbrenner einer gefährdeten Menschheit geraten ins Hintertreffen. — War da noch was mit 500 Jahren Ausbreitung Europas auf den übrigen Globus?

Die so vielbeschworene „Festung Europa“ (an der sowohl hinter wie auch vor den Kulissen natürlich munter weitergebastelt wird) mit ihrer „Zitadellenkultur“ gerät dabei zum Teil selbst ins Wanken. Die Frage nach den Aufgaben staatlicher Herrschaft stellt sich daher nicht nur im Blick auf „Europa '92“ mit neuer Dringlichkeit.

Jetzt, wo die vordergründigen und wenig tragfähigen Allianzen politischen Blockdenkens vom Allmachtsanspruch des Westens und seines kapitalistischen Gesellschaftsmodells endgültig abgelöst worden sind und sich dieses Bahn bricht, stellt sich erneut die Aufgabe einer Suche nach Alternativen. Und diese unsere Suche hat, soll sie ernst gemeint sein, hier — im Innern des Molochs spätindustrieller „Postmoderne“ — stattzufinden. Die Projektionen auf selbsternannte oder von uns auserkorene revolutionäre Subjekte anderswo — möglichst weit weg und schön exotisch — sind passé. Angesagt ist, was Amilcar Cabral als Präsident der Befreiungsbewegung Guinea-Bissaus und der Kapverden (PAIGC) auf die Frage nach der besten Form von Solidarität schon Mitte der sechziger Jahre den internationalistisch bewegten Gemütern ins Stammbuch schrieb: den Kampf im eigenen Land zu führen.

Mit dem Versuch zur Durchsetzung eines hermetisch abgeschotteten europäischen Binnenmarktes des Jahres 1992 stellt sich die Bürger- und Menschenrechtsfrage — und damit die Regelung zum Ausschluß von beziehungsweise der Teilhabe an einer Gesellschaftsform — mit neuer Schärfe. Eine westeuropäische Wohlstandsinsel mit Exklusivitätscharakter (deren innere soziale Ungleichheit dramatisch wächst) hat sich gegenüber der schon häufig strapazierten Parole von der „einen Welt“ mehr denn je zu verhalten. Diese eine Welt aber bedeutet jenseits rhetorischer Pflichtübung und deklamatorischer Lippenbekenntnisse die Infragestellung unseres Selbstverständnisses mit der ihm zugrunde liegenden Lebensweise. Partikulare Ausschließlichkeit kann nicht da reklamiert werden, wo sie als spezifisches Wirtschafts- und Konsummodell die Bedürfnisse anderer Menschen mißachtet und mit Füßen tritt, wo deren Erhalt anderen den Zugang und die Partizipation zwangsläufig verwehren muß.

Hat dies dennoch bislang in der Einhegung entsprechender Forderungen der Länder und Menschen des Südens halbwegs funktioniert, wird dies nun durch die Veränderungen im Osten Europas kaum mehr möglich sein. Die im Rahmen der KSZE neu aufgeworfene und behandelte Frage von Bürger-, Menschen- und Minderheitenrechten, der damit zusammenhängende Stellenwert des staatlichen Souveränitätsprinzips sowie des Interventions- beziehungsweise Nichteinmischungsgebots setzt hier neue Akzente. Möglicherweise auch Maßstäbe, die auf der Ebene zwischenstaatlicher und internationaler Politik die veränderte Weltsituation dokumentieren und am Selbstverständnis des nationalstaatlichen Heiligtums kratzen, das in wirtschaftlicher Hinsicht ohnehin schon längst obsolet geworden ist (und hinsichtlich der „Dritten Welt“ nie existierte).

Bislang erhielten Menschenrechte meist nur interessengebundene Geltung. Deren Ausgestaltung war fast immer reduziert auf die Möglichkeiten, wie sie die realen Machtverhältnisse zubilligten. Das ist heute nicht anders geworden: Was als „Menschheit“ gilt, fand und findet im konkreten Kontext seine Beschränkung in „Rassen“, „ethnischen Gruppen“ oder „Kulturen“, um nur einige der kategorialen Konstruktionen zur Unterteilung und Differenzierung zu bemühen. Von der handfesten, klassenspezifischen Interessenslage bestehender Machtverhältnisse einmal ganz abgesehen, die natürlich durch solche Klassifikationen verschleiert werden soll und sich derer bedient.

Der ideelle Wesensgehalt von Menschenrechten aber zeichnet sich dadurch aus, daß diese unteilbar sind. Sie können keine Exklusivität beanspruchen. Vielleicht liegt gerade darin ihre historische Chance in der derzeitigen Umbruchsituation. Auch wenn es ihnen bislang jenseits beschriebenen Papiers an einer verbindlichen Definition und deren Anwendung mangelt, die der Gratwanderung zwischen partikularen und universellen Betrachtungsweisen Rechnung trägt — und es hierfür weder ein Patentrezept noch einen unumstößlichen Kriterienkatalog gibt. An der konkreten inhaltlichen Ausformulierung von Bürger- und Menschenrechten (weiter) zu arbeiten und deren Respektierung einzufordern, könnte eine der markantesten und erfolgversprechendsten politischen Herausforderungen der neunziger Jahre sein.

Wir wären bei einem solchen Unterfangen nicht nur in schlechter Gesellschaft, die auf den Mißbrauch solcher Konzepte aus ist. Gewiß nicht zufällig hat die „demokratische Frage“ — wie unzureichend bislang auch immer gestellt, geschweige denn beantwortet — derzeit weltweit Konjunktur. Und zwar keinesfalls nur unter Apologeten gesellschaftlicher Verhältnisse, deren Träger ihre Interessen hinter den hehren Postulaten eines politischen Systems „ziviler Geselschaft“ verbergen, das so zivilisiert bisher nicht gewesen ist, wie es immer vorzugeben bemüht war.

Es sind die „Verdammten dieser Erde“, auf die uns Frantz Fanon Ende der fünfziger Jahre in einer auch heute noch aktuellen Form aufmerksam machte, die eine Wahrnehmung demokratischer Rechte einfordern — in ihren jeweiligen Herkunftsländern wie auch dort, wo sie angesichts des Hungers, der Not und der Kriege hin vertrieben werden. Die unwirtliche „Festung Europa“ gehört dazu. In ihr werden wir uns die Frage stellen und beantworten müssen, mit wem wir es letztlich halten in einer Zeit, in der „das Alte stürzt“. Das Neue braucht dabei so neu gar nicht zu sein.

In der Einleitung zu ihrer Dialektik der Aufklärung schrieben Horkheimer und Adorno: „Kritisches Denken, das auch vor dem Fortschritt nicht innehält, verlangt heute Parteinahme für die Residuen der Freiheit, für Tendenzen zur realen Humanität, selbst wenn sie angesichts des großen historischen Zuges ohnmächtig erscheinen.“ Henning Melber

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen