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DEBATTEFanal ohne Folgen

■ Flüchtlinge beendeten eine fünfmonatige Besetzung der Berliner TU

Vom 25.Oktober 1991 bis zum 7.April 1992 fanden in elf Seminarräumen der TU Berlin keine Mathematiklehrveranstaltungen mehr statt: Sie waren durch zeitweise über 100 AsylbewerberInnen aus über zehn Ländern besetzt, die allesamt aus Unterkünften in der Ex-DDR geflohen waren. Grund der Besetzung: Auf dem Höhhepunkt der Angriffswelle gegen Flüchtlinge wollten eine Gruppe deutscher „Unterstützer“ und die Flüchtlinge selbst ein Zeichen setzen und erreichen, daß die Zwangsverteilung in die neuen Länder eingestellt wird. Fast zur gleichen Zeit gab es eine entsprechende Aktion in der Evangelischen Kirchengemeinde im schleswig-holsteinischen Norderstedt.

Nach zunächst heftigen Konflikten zwischen der TU-Leitung und den Besetzern verlagerte sich hier die Auseinandersetzung. Die Gremien der TU Berlin bekundeten ihre prinzipielle Unterstützung für das Ziel einer humanen und menschenwürdigen Behandlung und Unterbringung der Flüchtlinge, und die Leitung der TU versuchte, den Berliner Innensenator Heckelmann (CDU-nah) zur Aufnahme dieser Menschen in Berlin zu bewegen. Dieser weigerte sich vier Monate lang, das ganze überhaupt zur Kenntnis zu nehmen: Ebenso wie die Sozialsenatorin Stahmer (SPD) bekundete er seine Unzuständigkeit für die Bewohner der Seminarräume, die nicht nach Berlin zugewiesen waren. Genervt vom hartnäckigen Drängen der TU auf eine Lösung erklärte er darüber hinaus, mit einer Universität verhandele er nicht über Ausländerpolitik.

Eine politische Intervention aus der Senatskanzlei des Regierenden Bürgermeisters führte dann doch zu weiteren Verhandlungen. Von den Flüchtlingen hatten bereits rund 50, zermürbt, ein Angebot des Landes Brandenburg angenommen. Der Rest hatte sich nach langen politischen Diskussionen auch mit der TU-Leitung duchgerungen, durch freiwilligen Auszug wenigstens einen Rest eigenständigen poltischen Handelns an den Tag zu legen und dabei zumindest für einen Teil (es waren schließlich 16) der Flüchtlinge eine Aufnahme in Berlin zu erreichen. Einen Tag nach dem Einzug der Rechtsextremen in die Landesparlamente von Schleswig-Holstein und Baden-Württemberg ging dann der Auszug der Flüchtlinge aus der TU fast ohne Interesse der Öffentlichkeit über die Bühne.

Eskalation in Norderstedt

Ganz anders in Norderstedt: Hier eskalierte der Konflikt zwischen Flüchtlingen beziehungsweise Unterstützern. Beide warfen sich wechselseitig „Rassismus“ und „Funktionalisierung von Menschen“ vor. Die Behörden fuhren die gleiche harte Linie wie in Berlin. Die überregionale Presse stürzte sich auf den Fall ebenso wie die anderen Medien; wochenlang fanden sich die bösartigen Autonomen, die Flüchtlinge für ihre politischen Ziele mißbrauchten, in Gazetten und auf Bildschirmen. Schließlich stellte der Pastor, am Ende seines Lateins und sicherlich gegen seine Überzeugung, einen Räumungsantrag — in der Nacht vorher verschwanden Flüchtlinge und Unterstützer und ließen zerstörtes Mobiliar und verschmierte Wände zurück.

Ursachen für die unterschiedliche Entwicklung der beiden Fälle lassen sich im Grunde nicht ausmachen. Vielleicht war es die Bereitschaft in Berlin, das Ganze nicht nur als humanitäres „Anliegen“, sondern auch als politisches Problem zu behandeln: So hatten die Flüchtlinge und ihre Unterstützer die Chance, auch andere Wege als die verbissen-militante Konfrontation zu diskutieren und schließlich auch in die Praxis umzusetzen. Es war schon ein Fortschritt gegenüber dem üblichen Kategoriensystem von „Autonomen“, den vorzeitigen Auszug eines Teils nicht als „Spaltung“ und flexibles Eingehen auf reale Verhältnisse nicht nur als „Niederlage“ zu betrachten.

Humane Orientierung

Ansonsten bin ich ziemlich sicher, daß in Berlin wie in Norderstedt alle Beteiligten nahezu die gleichen Grundpositionen hatten: Kirche wie TU fühlten sich angesichts dumpf- deutscher Aggression und brutaler Gewalt gegen Asylsuchende zum humanitären Engagement aufgefordert. Ich für meinen Teil jedenfalls war trotz der anfänglich heftigen Konflikte mit den Unterstützern/ Flüchtlingen im Grunde ganz froh, in dieser Situation auch praktisch aktiv werden zu können. Unterstützer hier wie dort, zutiefst empört über die Behandlung von Flüchtlingen in Deutschland, sahen mit deutscher Gründlichkeit bald überall nur noch „Rassisten“, auch bei Menschen mit gleichen Zielen. Skepsis gegenüber der politischen Wirkung, Kritik an der Gefährdung der Flüchtlinge durch die Aktionen und an der zur Schau getragenen „Militanz“ wurde zunächst brüsk zurückgewiesen.

Die Behörden hier wie dort fürchteten nichts so sehr wie einen „Präzedenzfall“ und exekutierten ordnungsgemäß ihre Vorschriften, Anweisungen und (Nicht-) Zuständigkeiten. „Verlust der humanen Orientierung“, nennt Ralph Giordano diesen Effekt beim deutschen Pflichterfüllen. Vielleicht müssen Mitarbeiter der Ausländer- und Sozialbehörden, die jeden Tag mit Menschen in Grenzsituationen zu tun haben, sich ja schon aus Selbsterhaltung fernhalten von jeglichen Gefühlen für die Menschen, die sie zu verwalten oder zu betreuen haben. Daraus wird dann in vielen Fällen aber ganz persönlich gefärbte, aggressive Hartleibigkeit gegenüber den „Klienten“: Standardausdruck für die Flüchtlinge war „die Herrschaften“ mit dem „Anspruchsdenken“. Sie wollten zunächst den Flüchtlingen nicht einmal die Verpflegung für eine Zwischenunterbringung in Berlin zubilligen.

Aber läßt sich Humanität und Großzügigkeit gegenüber Asylbewerbern überhaupt praktizieren in einer Situation, in der die politische Bereitschaft hierzu nur bei einer Minderheit vorhanden ist? Dennoch gab es in den fünf Monaten der Besetzung Abgeordnete, Sozialarbeiter, Gewerkschafter und Kirchenvertreter, die sich mit persönlichem Engagement um die TU-Flüchtlinge gekümmert haben. SPD- und Kirchenvertreter allerdings vollführten Eiertänze, wenn es um das an sich so selbstverständliche Zugeständnis ging, daß Flüchtlinge im Falle menschenunwürdiger Verhältnisse ihren Aufenthaltsort selbst mitbestimmen können.

Hier liegt dann auch der Kern des Problems: Denken und Handeln fast aller Beteiligten folgen der festgelegten Rollenverteilung und sind damit praktisch determiniert. Alle wissen oder ahnen, daß ein politischer Erfolg als „Präzedenzfall“ andere nach sich ziehen wird. So pflegt man lieber auf allen Seiten bequeme Feindbilder, die unentbehrlich sind auch für die öffentliche Wirkung und damit für die Beeinflussung der Politik. So werden die eigentlichen Skandale im Alltag von Ausländer- und Sozialbehörde kaum mehr aufdeckbar und damit auch nicht veränderbar: Sie bleiben entweder im Windschatten spektakulärer Schlachten wie in Norderstedt oder sind als Beigabe zu ohnehin mäßig aufregenden friedlichen Aktionen einfach uninteressant. Journalisten, anfänglich interessiert, reagierten entsprechend auf das Ende der Besetzung: So was ist keine Nachricht, ein paar Zeilen werden spendiert und dann gehts über zur Tagesordnung.

Business as usual?

Zu der sollte allerdings keiner übergehen. Die TU-Räume waren nach wenigen Tagen wieder für Seminare nutzbar, die Ursachen für die Flucht Hunderttausender nach Deutschland jedoch bleiben ebenso bestehen wie Rassismus und Bürokratenmentalität. Eine Universität wie die TU Berlin bleibt also gefordert: Da Wissenschaft nicht ohne Internationalität, Kultur nicht ohne nationale Vielfalt und Zivilisation nicht ohne Toleranz überleben kann, werden wir diese in Forschung, Lehre und Praxis verteidigen und gleichzeitig unsere eigene Rolle, den Beitrag von Wissenschaft und Technik zu den Ursachen von Migrationsbewegungen ebenso wie zu den Problemlösungen kritisch reflektieren müssen. Wolfgang Neef

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