DEBATTE: Ist Bosnien gestorben?
■ Die militärisch erzwungene ethnische Entmischung darf nicht akzeptiert werden
Die Szenarien gleichen sich. Ein verschlagener Potentat setzt auf militärische Mittel, um eine expansive Politik völkerrechtswidrig durchzusetzen, und narrt die internationale Staatengemeinschaft. Diese entscheidet sich nach dem Scheitern aller diplomatischen Bemühungen für einen totalen Wirtschaftsboykott. Der geächtete Machthaber gibt sich unnachgiebig, antwortet mit Durchhalteparolen und beschwört ein internationales Komplott. Doch hier schon enden die Parallelen. Slobodan Milosević ist nicht Saddam Hussein. Im autoritär regierten Serbien genießen die Bürger, wenn sie nicht gerade Albaner oder Ungarn sind, gewisse politische Rechte, wie es sich für eine Demokratie ziemt. Anders als Hussein droht Milosević nicht mit einem chemischen Krieg und bastelt an keiner Atombombe. Und Bosnien-Herzegowina ist nicht Kuwait. Der Westen hat weder geostrategische noch wirtschaftliche Interessen zu verteidigen. Eine dem Desert Storm vergleichbare US-Intervention wird es nicht geben. Zum Glück nicht.
Eine UNO-Intervention über das peace-keeping hinaus scheint ausgeschlossen, weil Rußland und China im Sicherheitsrat ein Veto einlegen würden. Außerdem ist die UNO — ihr Generalsekretär wird nicht müde, es zu betonen — an der Grenze ihrer finanziellen Belastbarkeit angelangt. Doch was soll geschehen, wenn die Sanktionen nicht greifen und Bosnien-Herzegowina weiter in Schutt und Asche geschossen wird? Schon hat die Nato ihre Bereitschaft signalisiert, der KSZE Truppen und Material für „friedenstiftende Einsätze“ anzubieten. Doch würde eine militärische Intervention zur Vertreibung der serbo-jugoslawischen Armee und der Tschetniks aus Bosnien-Herzegowina und aus Kroatien keinen Frieden stiften, sondern mit Sicherheit zusätzliche Probleme und noch mehr Tod und Elend bringen.
Eine Brücke nach Sarajevo
Doch drängt sich aus humanitären Gründen eine militärische Aktion — vergleichbar jener im kurdischen Norden des Irak, als Hunderttausende von Flüchtlingen um Hilfe flehten — schon jetzt auf. Wenn die Verhandlungen über eine Öffnung des von serbischen Milizen kontrollierten Flughafens von Sarajevo zwecks Lieferung von Medikamenten und Nahrungsmitteln scheitern, muß die Einrichtung einer Luftbrücke militärisch erzwungen werden. Und man wird auch um die militärische Begleitung von Hilfskonvois und die Einrichtung von Sicherheitszonen für Flüchtlinge kaum umhin kommen. Die Situation ist hoch dramatisch und gebietet Eile. Die Hälfte der 600.000 Einwohner der bosnischen Hauptstadt ist bereits geflohen, die andere Hälfte ist nach bald zweimonatiger Belagerung und der weitgehenden Zerstörung der Infrastruktur akut von Hunger und Seuchen bedroht. Die Deutschen haben angesichts der desaströsen Geschichte ihrer Präsenz auf dem Balkan bei militärischen Operationen allerdings nichts zu suchen.
Ansonsten bleibt vorerst nur, auf die Wirkung von Sanktionen und diplomatischer Bemühungen zu hoffen. Kurzfristig werden sie zu beträchtlichen Versorgungsschwierigkeiten, aber nicht zum wirtschaftlichen Zusammenbruch führen. Serbien ist landwirtschaftlich autark, die Ernte 1991 war besonders gut. Die eigene Erdölproduktion deckt mindestens ein Viertel des Bedarfs. Wie sich die Sanktionen politisch und psychologisch auswirken, ist noch offen. Sie könnten durchaus die Antikriegskoalition befördern, zu der sich große Teile der Opposition und zahlreiche Intellektuelle zusammengeschlossen haben, zumal sich auch die orthodoxe Kirche, wichtigster Träger der serbischen Kultur, offen gegen Milosević ausgesprochen hat.
Nicht alle Seiten sind gleichermaßen schuld
Der Schlüssel für den Frieden liegt in Belgrad, wo auch die Hauptschuld am Krieg liegt. Nur wenn das Regime Serbiens kippt oder Milosević— sei es auch bloß aus egoistischen Gründen der Machterhaltung — einen radikalen Kurswechsel vollzieht, kann jenseits der serbischen Grenze Frieden einkehren. Eine Voraussetzung ist auch dann noch die Entwaffnung der serbischen, kroatischen und moslemischen Milizen. Zwar gibt es inzwischen auch Hunderttausende von serbischen Flüchtlingen, zwar sind die moslemischen grünen Barrets oder die kroatischen Freischärler zu denselben atavistischen Grausamkeiten fähig wie die serbischen Tschetniks. Zwar hat der kroatische Präsident Franjo Tudjman ein gerütteltes Maß Schuld an diesem Krieg. Kroatische Truppen greifen mittlerweile wohl auch in Bosnien-Herzegowina ein oder geben den dortigen Milizen zumindest logistische Hilfe. Doch darf all dies nicht zu einer Gleichsetzung von Angreifern und Angegriffenen führen. All dies darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß die von der serbischen Führung kontrollierte jugoslawische Armee und serbische Tschetniks Kroatien angegriffen und ein Drittel des Landes besetzt haben und besetzt halten, daß sie weiterhin die kroatischen Städte Ostslawoniens sowie Zadar und Dubrovnik beschießen und daß sie den Krieg in Bosnien-Herzegowina entfacht haben, der zur größten Massenflucht seit den Vertreibungen nach dem Zweiten Weltkrieg geführt hat.
Sollten die Sanktionen greifen und zu einer Revision der serbischen Politik führen, oder sollte der Krieg ein Ende finden, sei es auch nur, weil die serbische Seite ihre Kriegsziele erreicht hat, ist der Frieden noch längst nicht gewonnen. Dann werden sich zwei Probleme von neuem stellen, die diesem Krieg zugrunde liegen: das Problem der Rechte der serbischen Minderheit in Kroatien und das Problem eines unabhängigen Staates Bosnien-Herzegowina, vor allem also das Problem der Grenzen.
Wer setzt die Grenzen?
Es ist nicht nur fatal, sondern auch im Sinn einer wirklichen Lösung kontraproduktiv, schon jetzt, zu Zeiten des Krieges, in Hoffnung auf einen Frieden, militärisch durchgesetzte neue Grenzen, etwa in Ostslawonien, zu akzeptieren und damit Gebietseroberungen zu legitimieren, oder gar die Aufteilung von Bosnien- Herzegowina zwischen Kroatien und Serbien hinzunehmen und sich von der Idee eines drei Völker umfassenden unabhängigen Staates zu verabschieden. Es hieße, sich dem Diktat der Kriegstreiber zu beugen, deren Ziel es ja gerade war, ethnisch reine Gebiete freizuschießen.
Selbst wenn die ethnische Entmischung über Krieg, Vertreibung und Flucht zu einem beträchtlichen Teil bereits durchgesetzt ist, und selbst wenn sie — wie in Zypern nach 1974 oder wie in Kleinasien nach dem Ersten Weltkrieg — als der wahrscheinlichste Ausgang scheinen mag, darf sie nicht jetzt schon als einzige realpolitisch durchsetzbare Lösung gehandelt werden. Zum einen, weil die Lösung der jugoslawischen Frage paradigmatischen Charakter hat für Spannungen, Konflikte und Kriege weiter im Osten: in Moldawien, auf der Krim oder im Transkaukasus. Zum andern darf nicht vergessen werden, daß vor allem die Moslems, aber auch viele Kroaten und auch Serben, sich immer wieder für einen gemeinsamen Staat Bosnien-Herzegowina ausgesprochen haben. In Sarajevo sind noch vor einem Monat über hunderttausend Angehörige aller drei Völker für ein friedliches Zusammenleben auf die Straße gegangen. Mag sein, daß das nach all den Kriegsgreueln nun nicht mehr möglich ist. Lebten nach der Massenschlächterei im Zuge des Befreiungskrieges der 40er Jahre, als vorwiegend in Bosnien kroatische Ustascha-Milizen, königstreue serbische Tschetniks und kommunistische Partisanen sich mit grausamsten Methoden bekriegten und Hunderttausende starben, Moslems, Serben und Kroaten fast ein halbes Jahrhundert lang relativ konfliktfrei zusammen. Allerdings unter der titoistischen Knute. Diese müßte heute durch ein international vereinbartes und überwachtes Abkommen ersetzt werden, das die Rechte der Minderheiten festschreibt, die in ihren angestammten, nunmehr entmilitarisierten Orten unter der Tutel von Blau- oder Grünhelmen leben könnten. Utopisch? Realpolitisch nicht durchsetzbar? Zumindest müßten auch die anderthalb Millionen Menschen gefragt werden, die dieser Krieg in die Flucht getrieben hat. Thomas Schmid
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