DEBATTE: Jenseits der Binsenweisheiten
■ Zum Streit über Friedenssicherung durch militärische Zwangsmaßnahmen der Vereinten Nationen
Der im und am Golfkrieg ausgebrochene Streit zwischen sogenannten „Bellizisten“ und „Pazifisten“ hatte zwar damals auch schon die Friedens- und Konfliktforschungsinstitute der Bundesrepublik erfaßt, war aber nicht offen ausgetragen worden. Mit der Vorstellung des Friedensgutachtens 1992 vergangene Woche in Bonn wird der Konflikt in den drei größten Instituten nun öffentlich. Gestern publizierten wir einen Aufruf einzelner FriedensforscherInnen, die sich gegen eine Debatte über militärische Intervention, wo auch immer, aussprachen, da dies den „grundsätzlichen Anspruch der Friedensforschung ins Absurde“ führe.
Internationale und innergesellschaftliche Konflikte gewaltfreien Lösungen zuzuführen, das ist auch mein Erkenntnisinteresse. Wer wollte dem auch widersprechen. Das Problem, um das es geht, ist ein anderes: Was ist zu tun, wenn Konflikte bereits mit militärischer Gewalt ausgetragen und Tausende Unschuldiger massakriert werden. Angesichts der vielen Menschen auf dem Balkan, deren Leben durch eine rücksichtslose Soldateska oder durch fanatisierte Milizen akut gefährdet ist, muß der Satz, wer helfen wolle, dürfe Leben nicht aufs Spiel setzen, entweder als trivial oder als zynisch erscheinen.
Nur solche Dilemma-Situationen liefern eine Rechtfertigung für die Debatte über „Gegengewalt“. Sie darf die absolute Priorität für die Mittel friedlicher Konfliktlösung nicht verdrängen, die auch die UNO- Charta vorschreibt. Die UNO- Charta stellt jedoch völlig zu Recht fest, daß es Fälle geben kann, in denen die internationale Gemeinschaft auf die Anwendung von Gegengewalt verwiesen bleibt, um einen Friedensbruch abzuwenden oder zu beenden.
Der radikalpazifistische Ansatz (nie und unter keinen Umständen Gewalt) übersieht, daß die Alternative, bei der die internationale Gemeinschaft auf friedenserhaltende und gegebenenfalls auch friedenserzwingende Maßnahmen verzichtet, keineswegs eine gewaltfreie Welt ist. Die Alternative ist vielmehr eine Welt, in der sich Aggression ohne wirksame Antwort ausbreiten kann, in der Staaten — unter der UNO- Charta (Art. 51) durchaus rechtmäßig — zur Selbsthilfe greifen, um auf Aggression zu antworten, und in der insbesondere die großen Mächte ungehemmt und unkontrolliert als selbsternannte Ordnungshüter agieren können und werden. Der planvolle Aufbau einer wirklich internationalen und international kontrollierten Interventionskapazität ist dieser Welt vorzuziehen.
Es ist richtig, daß Gewalt keine Probleme löst. Auch diese Binsenweisheit geht aber an der eigentlichen Problemstellung vorbei. Zum einen sollte es das wichtigste Ziel von Intervention sein, den Ausbruch von Kriegen zu verhindern. Eine große Zahl von denkbaren Einsatzfällen einer UN-Interventionstruppe werden also von dem Argument nicht berührt. Zweitens geht es gar nicht um die „Lösung von Problemen“. Wenn die internationale Gemeinschaft sich entschließt, Gewalt anzudrohen oder zu den Waffen zu greifen, so wird allenfalls die Verhinderung eines größeren Übels das Ziel sein. Nicht die „Konstruktion“ (Problemlösung), sondern die Verhinderung noch unverhältnismäßig größerer Destruktion gibt den Ausschlag für diese Entscheidung.
Im Falle Jugoslawiens beispielsweise halte ich es für wahrscheinlich, daß eine frühzeitige Verlegung von Luftwaffeneinheiten mit der Drohung, jugoslawische Kampfflugzeuge und Kriegsschiffe notfalls gewaltsam von Kampfeinsätzen abzuhalten, die Zerstörung ziviler Ziele maßgeblich eingedämmt hätte. Eine erfolgreiche Drohung dieser Art hätte auch die Bewegungsfreiheit der regulären jugoslawischen Armee stark eingeschränkt. Während das die Kämpfe nicht zwangsläufig gestoppt hätte, hätten Tempo und Zerstörungskraft der Kampfhandlungen stark nachgelassen, und die jugoslawische Armee hätte ein greibareres Motiv besessen, eine Lösung am Verhandlungstisch zu suchen.
Wer den Frieden mit nichtmilitärischen Mitteln sichern will, kann der Frage nicht ausweichen, was die internationale Gemeinschaft unternimmt, wenn zwei ihrer Mitglieder militärisch aneinandergeraten, was gegenüber einem Hitler oder Saddam Hussein zu tun ist und was geschehen soll, wenn ein Mitgliedsstaat ins Gewaltchaos zu verfallen droht. In allen drei Fällen ist der Einsatz militärischer Gewalt zur Verhütung eines größeren Übels weder zwangsläufig noch selbstverständlich, er kann aber auch nicht ausgeschlossen werden. Wenn das so ist, besteht keine moralische Rechtfertigung für Totalabstinenz, im Gegenteil. Die internationale Gemeinschaft kann die Instrumente der Gewalt nur gemeinsam bändigen, oder sie fällt in das Zeitalter der Selbsthilfe zurück. Eine friedliche Welt wäre das nicht. Harald Müller
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