piwik no script img

DEBATTEVölkermord in Bosnien

■ Die UNO-Konvention muß endlich ernst genommen werden

Am Samstag, dem 16. Mai 1992, kamen in das kleine bosnische Dorf Zaklopaca morgens um vier Uhr serbische Reservisten. Die Soldaten umstellten das Dorf und warteten bis fünf Uhr nachmittags. Dann kamen sie mit großer Verstärkung in den Ort, unter ihnen der (serbische) Polizist Milomir Milosovic aus dem Nachbardorf Milici. Zu den Reservisten hatten sich etwa 50 serbische Tschetniks gesellt, viele von ihnen waren maskiert. Auf einen ihrer Lada-Wagen war das Wort „Pokolj“ (Massaker) geschmiert. Die Einwohner konnten einige der Serben erkennen, sie kamen aus Nachbardörfern. Der Moslem Haso Hadzic, der versuchte zu fliehen, wurde als erster erschossen. Sein Mörder wurde ebenfalls von Frauen des Dorfes erkannt.

Am Abend des 16. Mai gab es keinen Menschen moslemischer Herkunft mehr im Dorf. Alle waren getötet oder in die Flucht gejagt: Anfang Juni kamen 50 Frauen und Kinder — kein einziger Mann hat überlebt — in Zagreb an. Sie sind die Zeugen dieses Massakers. Des einen Massakers, im Dorf Zaklopaca. Es gibt inzwischen viele hundert Zaklopacas in Bosnien.

Die Täter waren: reguläre serbische Soldaten, serbische bewaffnete Banden (Tschetniks) und vereinzelte Serben aus der Nachbarschaft, die ihre Opfer persönlich kannten. Nach der Ermordung und Vertreibung der Bewohner eigneten sich die Täter alles bewegliche Hab und Gut des Dorfes an, sie trieben das Vieh ab und raubten die Häuser aus. Von den 500.000 bosnischen Flüchtlingen im Lande selbst und von den bald 700.000 Flüchtlingen außerhalb der bosnischen Grenzen haben wohl Zehntausende ähnliches erlebt.

In Bosnien findet seit Monaten ein Völkermord an den Moslems statt. Sie werden ermordet, terrorisiert, vertrieben: mit dem einzigen klar erkennbaren Ziel, Bosnien „frei“ von Bosniern moslemischer Herkunft zu machen. Und genau das ist Völkermord nach der Definition der Vereinten Nationen. Es gibt auch Gebiete Bosniens, wo Kroaten versucht haben, mit ähnlich grausamen Methoden die Dörfer „serbenfrei“ zu machen. Auch das ist Völkermord im Sinne jener Definition. Aber die UNO nennt es heute nicht so. Diskutiert wird über Eingreiftruppen und eine mögliche dramatische Eskalation dessen, was als „Bürgerkrieg“ gedeutet wird. Diese Form des Bürgerkriegs, die systematische Ermordung und Vertreibung ist Völkermord und muß auch so bezeichnet werden. Erst dann wird nämlich aus der generellen Verurteilung des serbischen Staates eine spezifische Straffälligkeit der einzelnen Verantwortlichen, der Armee- und Tschetnik-Führer, auch der einzelnen beteiligten Täter: Sie alle könnten dann einer internationalen Gerichtsbarkeit unterworfen werden. Eine Ausflucht mit dem Hinweis auf „Kriegshandlungen“, Bürgerkriegswirren, politische Konflikte gibt es beim Völkermord nicht: Die Taten müssen weltweit so geahndet werden wie gemeine Kriminalität von Individuen. Die Völkermörder können keine Verjährung erwarten.

Aber seit 1948 wird die Völkermordkonvention nicht angewendet. Zur Definition der Auschwitz-Verbrechen ist sie geschaffen, zur Abschreckung künftiger Völkermörder ist sie nie angewendet worden. Nicht im Falle Südsudans, nicht in Kambodscha, nicht bei den Aktionen gegen die Indios in Nordguatemala. In einem waren sich 1945 nicht nur die Siegermächte, sondern alle Staaten der Nach-Auschwitz-Welt einig: Was immer passieren mag, Völkermord, Genozid soll fürderhin nicht nur geächtet sein, sondern auch bestraft werden können. Der Prozeß von Nürnberg war ausgegeben worden als der Weltstrafprozeß, vor dem künftig alle diejenigen zittern sollten, die sich noch einmal des Verbrechens des Völkermordes — des versuchten oder des vollendeten — würden schuldig machen.

Natürlich ließ sich immer darüber streiten, was denn Massenmord und was Völkermord ist, was polemische Übertreibung und was apokalyptische Realität. Die „Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes“ vom 9. Dezember 1948 gibt eine ziemlich eindeutige Formulierung: „... Völkermord bedeutet eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören...“ Bei der Beschreibung der einzelnen völkerkriminellen Handlungen heißt es deutlich: „Tötung von Mitgliedern der Gruppe, vorsätzliche Unterwerfung der Gruppe unter Lebensbedingungen mit dem Ziel, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen...“

Verteilungskampf als Vertreibungsterror

Genau das geschieht derzeit in Bosnien: Die moslemischen Bosnier werden massenhaft verjagt, ermordet, ihre Lebensumstände werden zu Todesumständen, durch Aushungern, Zerstörung, Vertreibung. Serben aus Bosnien und serbische Soldaten aus der alten jugoslawischen Armee begehen nach dem Wortlaut der Konvention Völkermord. Dafür können alle „Personen, die Völkermord oder eine der sonstigen angeführten Handlungen begehen, bestraft werden, gleichviel, ob sie nach der Verfassung verantwortliche regierende Personen, öffentliche Beamte oder Privatpersonen sind“ (Art. IV der Konvention).

Der Terror, der in Dutzenden von Dörfern und Städten mit mehrheitlich bosnisch-moslemischen Bewohnern derzeit ausgeübt wird, macht Tausende von serbischen Soldaten und Zivilisten zu Völkermördern im Sinne der Konvention. Viele sind bekannt. So organisiert in der Ortschaft Foca, nahe der Grenze zu Montenegro, ein Velibor Ostojic die Morde an den bosnischen Zivilisten.

Der Terror zielt auf die Angst der Überlebenden, die Zerstörung der Häuser durch die Luftwaffe und die Heckenschützen tun ein übriges, um den Tatbestand des versuchten Völkermords zu erfüllen. Das Ziel ist die Auslöschung der bosnisch-moslemischen Volksgruppe! Sei es durch Tod oder Verschwinden.

Wir stehen heute vor einer neuen Phase der Unmenschlichkeit: Sie hat ihren Anfang genommen mit den Nazideutschen: Ihre perverse Ideologie hatte bereits die „modernen“ Formen der Auslöschung und Vertreibung als religiös oder rassisch begründeter globaler Verteilungskampf vorgeprägt. Wo der damals moderne Industriestaat Deutschland sich des kitschigen Romantitels „Volk ohne Raum“ bemächtigte, um die Helotisierung der slawischen Völker (auch der Serben) zu begründen, organisieren sich heute in vielen Weltgegenden viele der überlegen Bewaffneten als „Völker ohne Raum“. Verteilungskampf als Vertreibungsterror, das wäre die schreckliche Perspektive, für viele in Bosnien, weltweit, wenn es jetzt nicht gelingt, unabhängig von Diskussionen über militärisches Eingreifen die Völkermordkonvention anzuwenden.

Milosevic und jeder der beteiligten Generale müssen wissen, daß sie in jedem Unterzeichnerstaat der Konvention als Völkermörder vor Gericht gestellt werden können, beziehungsweise ausgeliefert werden könnten. Jeder Tschetnik-Führer, dessen Namen bekannt ist — und wie viele haben nicht vor laufenden Kameras mit ihrer Rambo-Bereitschaft geprahlt — muß wissen, daß er weltweit ebenso als Verbrecher behandelt werden wird wie die Leute, die den PanAm-Jumbo in die Luft gesprengt haben.

Verteilungskämpfe durch Vernichtung und Vertreibung zu lösen, ein neues (uraltes) Grundmuster der internationalen Politik droht sich durchzusetzen. Alles Völkerrecht, alle UNO-Übereinkommen werden dadurch zur Farce. Wenn morgen die Georgier die Nordosseten vertreiben, die Aserbaidschaner Armenier, Armenier Aserbaidschaner, dann würde mehr und mehr das Gewaltprinzip des Völkermords das Friedensprinzip des Völkerrechts außer Kraft setzen. Es ist höchste Zeit, daß die Vereinten Nationen sich ihrer heute wichtigsten Gründungskonvention erinnern und rasch die vorgesehene internationale Strafgerichtsbarkeit unter den Zeichnerstaaten in Gang setzen. Die Bundesrepublik Deutschland, Nachfolgerin des Auschwitz-Staates, hätte Anlaß, die UNO an ihre Konvention zu erinnern. Diese war nicht nur geschaffen worden, um die Nürnberger Prozesse im nachhinein zu legitimieren, sondern sie sollte neuen Völkermord verhindern helfen. Freimut Duve

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen