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DEBATTEKurdistan ist nicht Bosnien

■ Das Dogma des kemalistischen Nationalstaats beginnt zu bröckeln

Die türkische Politik in Kurdistan steht vor dem Bankrott. Unter dem Mantel der „Terrorismusbekämpfung“ hat das türkische Militär die ganze Stadt Sirnak in Schutt und Asche gelegt. Ratlos verbreiten die türkischen Politiker im nachhinein die Lüge, es sei nicht das Militär, sondern die PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) gewesen, die Sirnak zerstört habe. Doch die Regierung Süleyman Demirel, die vergangenes Jahr mit dem Versprechen angetreten war, die „kurdische Realität“ anzuerkennen, trägt die Verantwortung für die Massaker im Südosten der Türkei.

Im Kampf gegen die PKK erscheint den türkischen Politikern jedes Mittel recht und billig. Doch von „ethnischen Säuberungen“ durch die türkische Armee zu reden, wie es eine Anzeige in der taz tut, hat mit der Wirklichkeit nichts gemein. Was in Türkisch-Kurdistan vor sich geht, ist ein Bürgerkrieg mit klar umrissenen Bürgerkriegsparteien: dem türkischen Staat, der seine „Souveränitätsrechte“ geltend macht und Militär einsetzt, und der PKK, die einen Guerillakrieg gegen den türkischen Staat führt. Der Umstand, daß der türkische Staat in diesem schmutzigen Krieg auch unschuldige Zivilisten mordet, ist nicht Instrument „ethnischer Säuberung“, sondern vielmehr Folgeerscheinung rabiat- brutaler „Terrorismusbekämpfung“.

Türken und Kurden nicht spinnefeind

Kurdistan ist nicht Bosnien. Es ist erstaunlich, daß die bewaffneten, blutigen Konflikte bislang kaum mit national-chauvinistischer Ideologie einhergehen. Feierlich beklatschen Abgeordnete der türkischen Regierungsparteien einen kurdischen Abgeordneten, wenn dieser die „Brüderlichkeit des kurdischen und türkischen Volkes“ benennt. Die Kurden seien treue Bürger des türkischen Staates, verkünden Politiker tagein, tagaus. Auch der PKK ist antitürkische Politrhetorik fremd. Im Gegenteil: Fürsorglich pflegt man Kontakte zu Regime-oppositionellen politischen Strömungen in der Türkei.

Die geringe Bedeutung chauvinistischer Elemente hat eine Reihe von Gründen. Die Geschichte des türkischen und kurdischen Volkes ist eine des Zusammenlebens. Mittlerweile leben mehr Kurden im Westen der Türkei denn in Türkisch-Kurdistan im Osten. Die Siedlungsgebiete sind durchmischt. Ein beträchtlicher Teil der Kurden im Westen der Türkei ist assimiliert, Mischehen sind gang und gäbe. Die gemeinsame Religion ist ebenfalls ein starkes Bindeglied. Die moslemische Identität war entscheidend, als Türken und Kurden nach dem Ersten Weltkrieg in gemeinsamem Kampf die Besatzungstruppen vertrieben. Auch heute noch ist die Religion so bedeutend, daß sowohl der türkische Staat als auch die PKK sie propagandistisch für ihre Zwecke nutzen. Der Staat hebt den übernationalen Charakter des Islam hervor, die PKK hingegen Elemente des Islam, die gegen staatliche Unterdrückung gewendet werden können. Hinzu kommt, daß der türkische Nationalismus eine Spätgeburt gegen Ende des 19. Jahrhunderts war: Reaktion auf die Nationalismen in Europa, die dazu führten, daß eine Reihe christlicher Völker sich vom Osmanischen Reich abtrennten.

Auch nach Gründung des türkischen Nationalstaates im Jahr 1923 war den anatolischen Völkern der Nationalismus fremd. (Bei dem Massaker an den Armeniern während des Ersten Weltkrieges, an dem sich Türken wie Kurden beteiligten, spielten religiös bestimmte imperiale Träume die Hauptrolle.) Der bürgerliche Nationalstaat wurde in der Türkei von oben, vom Staat, verordnet. Die Leugnung kurdischer Identität, die Politik der Zwangsassimilierung der Kurden ist nicht älter als die Geschichte der türkischen Republik selbst.

Krieg zwischen Staat und PKK kommt in die Städte

Noch ist kein ethnischer Bürgerkrieg in der Türkei im Gange. Doch die Entwicklung ist bedrohlich. Es ist den Strategen der PKK zu verdanken, daß sie bislang (mehr oder weniger erfolgreich) darauf drängten, das Leben von Zivilisten nicht durch Terrorakte zu gefährden. Doch heute führen Kurden im Kindesalter Terrorakte im Westen der Türkei durch. Die Polarisierung wächst. Mit Bomben auf öffentliche Verkehrsmittel Istanbuls dringt der Krieg in Kurdistan in den türkischen Alltag ein. In den Familien herrscht Besorgnis, wenn der Sohn als Wehrpflichtiger in den Osten geschickt wird, und in einigen Kleinstädten der Ägäis kam es zu Ausschreitungen gegen die kurdische Minderheit. Noch scheint das Schreckensszenario eines ethnischen Krieges zwischen Türken und Kurden in weiter Ferne zu liegen. Doch wenn es alsbald nicht zu einem radikalen Wandel in der Kurdistan- Politik des türkischen Staates kommt, könnten solche Alpträume Realität werden.

Seit Gründung des türkischen Nationalstaates gibt es einen Konsens der herrschenden Klassen über ihre Kurdistan-Politik. Die Nationalgrenzen der Türkei sind unantastbar, jede Form von Autonomie für die Kurden ist tabu. Schon in den zwanziger und dreißiger Jahren wurden kurdische Aufstände blutig niedergebombt. Die kemalistischen Prinzipien, das Festhalten an dem unitären Staat, ist Staatsdogma. Doch mittlerweile deuten sich Brüche im herrschenden Konsens an. Als erster türkischer Politiker wagte sich der türkische Staatspräsident Turgut Özal vor. Zum Entsetzen der Regierung sprach er öffentlich von kurdischem Fernsehen und kurdischen Schulen. Politisches Dynamit steckte auch in seiner Forderung, die freie Diskussion über eine politische Föderation mit den Kurden zu eröffnen. Er sei zwar ein Gegner dieser Idee, doch müsse zumindest darüber geredet werden. Ein absolutes Tabu in der türkischen Politik.

Das Erstarken der PKK und die Verdrängung Saddam Husseins aus Südkurdistan (Nordirak) treibt einen Politiker wie Özal dazu, die Funktionalität des kemalistischen Einheitsstaates anzuzweifeln. Für die Kemalisten war ein starker Irak die beste Garantie für die „Lösung“ der Kurdenfrage. Denn Kurdistan blieb geteilt: dort die irakischen Kurden unter der Fuchtel Saddam Husseins und hier die Kurden der Türkei unter Ankaras Kuratel. Durch diese Rechnung machte der Golfkrieg einen Strich. Als ungewolltes „Nebenprodukt“ des Krieges hat sich faktisch ein kurdischer Staat im Norden des Irak herausgebildet. Das Weihwasser spendeten die Amerikaner, und der türkische Staat mußte die Absolution erteilen. Es ist Ironie der Geschichte, daß heute noch in der Türkei alliierte Verbände zum Schutz der irakischen Kurden stationiert sind, während in der Türkei selbst die türkische Armee Krieg gegen die PKK führt.

Noch darf nicht von einem kurdischen Staat geredet werden. Noch reden die Amerikaner von der territorialen Integrität des Irak, und die Kurdenführer im Irak müssen es ihnen nachplappern. Doch die Luftraum-Intervention südlich des 32. Breitengrades durch die Alliierten zeigt, daß die Option eines dreigeteilten Irak (ein kurdischer Staat, ein sunnitisch-arabischer und ein schiitischer) offengehalten wird. Nur solange die Gnade der Amerikaner bzw. der Türken währt, kann die kurdische Autonomie im Nordirak überleben. Die Amerikaner haben den irakischen Kurdenführern angeraten, freundlich gegenüber den Türken zu sein. Regelmäßig bettelt Kurdenführer Talabani vor türkischen Ministerien und beteuert seine Feindschaft zur PKK. Talabani könnte sich sogar mit einer Schutzmacht Türkei anfreunden.

Özal wittert ganz neue Pfründe

Der türkische Staatspräsident Turgut Özal hat die Chance gewittert, die der Krieg im Namen der neuen Weltordnung seinem Land als imperialistische Submacht eröffnet. Sollte der große Bruder endgültig die Einwilligung erteilen, daß der Irak aufgeteilt wird, werden die Grenzen neu gezogen. Erdölfelder um Kerkuk und Mossul könnten der föderativ mit den Kurden verbundenen Türkei zugeschlagen werden. Soll der Weg für eine solche Entwicklung geebnet werden, sind allerdings zwei Hindernisse zu überwinden: zum einen der anachronistisch gewordene türkische Einheitsstaat. Zum anderen der marxistisch-leninistische Störenfried PKK. Ömer Erzeren, Istanbul

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