DEBATTE: Björn: Der Bumerang kommt zurück
■ Die Asylkehre der SPD, Engholms Autorität und das hessische Stoppsignal
Die deutsche Sozialdemokratie hat wieder einen Vorsitzenden: Björn Engholm — nicht zu verwechseln mit seinem Vorgänger gleichen Namens, einem irgendwie sympathischen aber führungsschwachen Politiker, dem keiner recht zutraute, daß er die Partei, geschweige denn ein Kabinett für die komplizierter gewordene Republik je auf Vordermann hätte bringen können. — Ganz anders der neue: Mit einer realitätsgerechten, entschlossenen Kehrtwende in zwei zentralen Streitfragen hat er dem Amt an der Spitze der Traditionspartei wieder Autorität verschafft. Der Mann hat Format. Fast schon vergessen das Jammertal, in dem die größte Oppositionspartei, allen voran ihr Vorsitzender, immer noch eine Spanne schlechter aussahen als des Kanzlers desolate Regierungskoalition...
So schön hätte alles kommen können, so etwa war er kalkuliert, Björn Engholms Petersberger Befreiungsschlag, seine Ankündigung, nicht länger mehr wolle die SPD sich bei den Grundgesetzänderungen in Sachen Asylrecht und Militäreinsatz querlegen. Die Ankündigung steht, doch die Befreiung blieb aus. Im Gegenteil, seit sich der hessische Landesverband am Wochenende dem neuen Kurs spektakulär verweigerte, hat sich Engholms Dilemma weiter verschärft: Die Profilierung des Vorsitzenden auf Kosten der Partei, das waberige, faktisch bedingungslose Einlenken auf Regierungskurs, die halb-gequälte Kapitulation vor der Mehrheitsmeinung, all das summiert sich derzeit zu einer eklatanten Fehlkalkulation.
Zu Engholms Ehrenrettung als Parteistratege — die Fehlkalkulation war nicht vorab programmiert. Erst das Zusammenfallen der Petersberger Beschlüsse mit den rassistischen Gewaltausbrüchen in Rostock hat Engholms Asyl-Kehre in Deutschland delegitimiert. Den symbolisch aufgeladenen Grundrechtsartikel opfern und damit zugleich in die Nähe derjenigen zu geraten, die seit über einem Jahr die Flüchtlinge als potentielle Aggressionsobjekte stigmatisieren, um jetzt die ausländerfeindlichen Attacken als politischen Handlungsauftrag zu interpretieren — beides zusammen erst produziert den innerparteilichen Widerspruch.
Zwangsanleihe bei der Koalition
Daß sich die Kritiker wider Erwarten nicht murrend auf den neuen Kurs einschwören ließen, dazu haben vor allem die ironisch-fordernden Reaktionen aus dem Regierungslager und das rückgratlose Agieren des Vorsitzenden in den letzten beiden Wochen beigetragen. Die spontanen Glückwünsche zu Engholms programmatischer Zwangsanleihe bei der Regierungskoalition waren noch nicht verhallt, da saßen sie ihm — von Bötsch bis Bohl, von Seiters bis Solms — schon wieder im Nacken. „Engholm beim Wort nehmen“ heißt die Parole. Klartext: Die SPD ist Hauptverursacher des „Asylnotstandes“ und mitverantwortlich für „die Ereignisse“ in Rostock. Jetzt bleibt ihr nur noch die unverzügliche Zustimmung zur Grundgesetzänderung.
Dieser demagogisch-offensiven Pointe der Koalition auf Rostock und Petersberg hat Engholm nichts entgegengesetzt. Weder hat er — etwa mit Verweis auf das sogenannte Gesamtkonzept der SPD zur Flüchtlingspolitik — die Erwartung derjenigen zurückgewiesen, denen die bedingungslos-restriktive Grundrechtsänderung schon als beschlossene Sache gilt, noch hat er klargestellt, daß eine künftige, von der SPD mitgetragene Asylpolitik nicht das bedeutet, was Asyl-Demagogen suggerieren und Gewalttäter durchsetzen wollen: das Ende des „Zustroms“. Stattdessen verspricht der SPD-Chef in einem schon obszön wirkenden Akt von Anbiederung auch noch die mögliche Grundgesetzänderung für den „großen Lauschangriff“ und stellt für '94 die Große Koalition in Aussicht.
Das ist die Melange, die die SPD in der Defensive hält: Man verbrämt die Kurskorrektur mit vielen, schönen Ansätzen, erlaubt aber der Regierung unwidersprochen, sich mit der Asylrechtsänderung das Passende rauszupicken; man signalisiert dem gesunden Volksempfinden, noch ein wenig verschämt, daß man jetzt auch in der Baracke zur Vernunft gekommen ist und empfiehlt leise den verbliebenen Kritikern in Partei und Öffentlichkeit die Lektüre des „Sofortprogramms“. Gruß, Björn.
Mit dieser Mischung aus Unernst, Opportunismus und dem Versuch, ihn zu verschleiern, hat die SPD- Führung in den letzten Wochen Glaubwürdigkeit, Handlungsspielraum und Mitgestaltungsanspruch verspielt. Wozu, so fragt man sich, wollen die eigentlich regieren?
Eine Frage, die auch für die zweite Petersberger Wende unbeantwortet bleibt. Auch hier macht sich Kritik nicht daran fest, daß die SPD eine wahrscheinlich unhaltbare Position — die Beschränkung auf Blauhelmmissionen — aufzugeben bereit ist; skandalös ist vielmehr, daß sie schon a priori zu verstehen gibt, in der Debatte um die zukünftigen Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr sei mit ernst gemeinten Vorschlägen und Einwänden ihrerseits nicht mehr zu rechnen. Die beredt vorgetragenen „Voraussetzungen“ — UN-Reform und -Gewaltmonopol — lassen sich ebenso getrost vergessen, wie das Einwanderungsgesetz als Rahmen für die Asylrechtsänderung. Denn jenseits der Frage, welchen Einfluß die SPD auf die Reform der Vereinten Nationen gewinnen könnte — welches Gewicht hat eine solche „Voraussetzung“ noch, wenn Engholm gleich bei deren Präsentation durchblicken läßt, möglicherweise könne man auch schon vorher loslegen?
Der sturen Blockade folgt die bedingungslose Übergabe. Unterstellt man, daß es Engholm nicht ausschließlich darum gehen kann, an den beiden aufgeladenen Problemfeldern seinen innerparteilichen Führungsanspruch zu demonstrieren, bleibt nur eine Erklärung für die Kurskorrektur der Parteispitze: Man will die Sache vom Tisch haben. Die Auseinandersetzung in den beiden Streitfragen erscheint den SPD-Strategen nur noch als Verschleiß. Bei der avisierten Asylrechtsänderung weiß man sich zwar in schlechter Gesellschaft; doch gegen die Mehrheit einer Bevölkerung, der mittlerweile erfolgreich eingebleut wurde, nur eine Grundgesetzänderung bringe die Lösung, traut man sich die bisherige Position nicht länger zu. In der Blauhelmfrage ist der Druck zwar noch nicht annähernd so stark. Doch auch hier versäumt die Koalition keine Gelegenheit, die SPD mit dem Vorwurf außenpolitischer Verantwortungslosigkeit in die Enge zu treiben.
Zwischen Blockade und Übergabe
Die nächsten Zumutungen an die SPD sind bereits programmiert: Der Ausschluß von Asylbewerbern aus sogenannten Nichtverfolgerstaaten, deutsche Militäreinsätze außerhalb der Bündnisverpflichtungen nur unter dem Dach der UNO — gehen der Union schon nicht mehr weit genug. Doch weil die SPD-Führung schon bei der prinzipiellen Wende keine Linie erkennen ließ, wird ihr die definitive Grenzziehung bei den Folgekonzessionen um so schwerer fallen. Die Richtung auf eine gesichtslose, unionskompatible SPD scheint vorgezeichnet. Aus diesem Kreislauf haben sich die hessischen Sozialdemokraten am Wochenende erstmal ausgeklinkt, ein erstes, wohltuendes Stoppsignal, nicht weniger — aber auch nicht mehr. Denn aus der bedingungslosen Verteidigung des Artikels 16 ergibt sich noch keine ernstzunehmende Flüchtlings- und Einwanderungspolitik; ebensowenig dürfte die Selbstbeschränkung auf Blauhelmmissionen die letzte Antwort der SPD sein, wenn es darum geht, den deutschen Beitrag zu einer künftigen Weltinnenpolitik zu umreißen.
Das hessische Veto hat die innerparteilichen Gegensätze vor Petersberg rekonstruiert und die Debatte um die künftige Orientierung der Partei wieder eröffnet. Der schleichende Übergang der SPD ins Regierungslager ist zumindest gebremst. Jetzt wird die SPD einen Kurs bestimmen müssen, der sich weder in prinzipienfester Blockade noch in Engholms bedingungsloser Übergabe erschöpft. Daß sich diese Alternative für die SPD überhaupt noch einmal stellt, ist mehr, als vor dem Wochenende zu erwarten war. Nach dem Hessen-Beschluß könnte die SPD wieder Politik machen. Das müßte am Ende selbst Engholm recht sein. Matthias Geis
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