DAS VERSCHWINDEN KÖRPERLICHER ARBEIT : „Double Tide“ (Forum) zeigt eine Frau, die Muscheln sammelt
Eine Küstenlandschaft bei South Bristol, Maine. Nur an wenigen Tagen im Jahr tritt die Ebbe hier zweimal bei Tageslicht ein. Dann zieht Jen Cassad einmal im Morgennebel, einmal während der Abenddämmerung ihren Arbeitsschlitten hinaus ins Watt, um Muscheln zu sammeln. In zwei festen Einstellungen und ohne Dialog (ein einziger Titel vermerkt lapidar Ort, Zeit, Name) dokumentiert die Filmemacherin Sharon Lockhart in „Double Tide“ die Arbeit dieser Frau. Muschelsammeln ist, wie es scheint, schnell erlernt. Man bückt sich, treibt den Arm so tief wie möglich in den Schlick, zieht die Beute heraus, legt den Fang in den Korb, geht zwei, drei Schritte weiter, bückt sich wieder. Und wieder. Und wieder. Und wieder. Muschelsammeln ist Knochenarbeit.
„Double Tide“ ist Lockharts dritter Film über Arbeitsalltag und -bedingungen in Maine. Immer kombiniert sie dabei einen formal strengen, strukturalistischen Ansatz mit einem dokumentarisch genauen, mit Wirklichkeit gesättigten Blick. Bevor sie ihre präzisen und äußerst konzentrierten Filme dreht, verbringt Lockhart oft mehr als ein Jahr damit, Menschen, Orte, Situationen zu recherchieren und kennen zu lernen. In „Exit“ filmte sie an fünf Tagen in ebenso vielen Einstellungen, wie Arbeiter einer Schiffswerft das Gelände der Fabrik verlassen. „Lunch Break“ zeigte Arbeiter, die ihre Mittagspause im Korridor der Werft verbringen. „Double Tide“ zeigt einen noch nicht industrialisierten Raum zwischen Himmel, Erde, Wasser. Aus dem alles verschleiernden Dunst des morgendlichen Nebels treten allmählich Konturen, Schatten, Unterschiede hervor. Langsam weicht die Wasserlinie in den Hintergrund des Bildes zurück. Dann wird der Raum größer, eröffnet sich zu einer Szenerie. Wir sehen zu, wie schweigend eine Tätigkeit verrichtet wird, wie sich eine Figur langsam in den Bildhintergrund bewegt, immer wieder beinahe im Nebel verschwindet, dann wieder deutlicher wird. Das schwere Atmen Cassads und die schmatzenden Geräusche, die jede ihrer Bewegung im Schlick verursacht, vermischen sich mit den Geräuschen der Umgebung: Vogelstimmen, dann und wann das Nebelhorn eines Schiffes oder ein vorüberfliegendes Flugzeug in der Ferne. Selbst an diesem Ort kann man die Technisierung der Welt nicht gänzlich hinter sich lassen. Der Mensch, die Arbeit, die Natur. Viel passiert nicht in „Double Tide“, aber wer mag, kann darin eine Schöpfungsgeschichte erkennen: Eine Welt tritt hervor, ein Mensch tritt in sie ein. Oder eine Lektion in Kunstgeschichte: Erinnert der erste Teil an das Monochrome und die Unschärfen eines Gerhard-Richter-Gemäldes, darf der zweite Teil als Hommage an William Turner gesehen werden. Dann wieder ist „Double Tide“ eine Allegorie auf das Verschwinden körperlicher Arbeit. Oder eine Reflexion über das Filmbild, seine Ästhetik, seinen Raum, seine Dauer. Oder ganz einfach ein Film über eine Frau, die zweimal am Tag hinausgeht, um Muscheln zu sammeln.
DIETMAR KAMMERER
■ Do., 18. 2., 18 Uhr, Arsenal 1