Corinna Stegemann : Liebes Gehirn …
Wir haben jetzt schon viele gemeinsame und friedvolle Jahre miteinander verbracht und uns eigentlich immer gut verstanden. Wir waren mehr oder weniger immer gute Kumpel. Klar, wir hatten auch schon unschöne Zeiten, als mir zum Beispiel einmal nicht mehr einfiel, wo zum Teufel ich irgendwas versteckt hatte: Briefmarkenalbum, Testament meines Urgroßvaters, die Diamanten, Fahrradschlüssel, atomwaffenfähiges Plutonium, die erste Handschrift von Schiller, den Stein der Weisen oder die Goldvorräte von Fort Knox – keine Ahnung.
Aber im Grunde kann ich mich immer auf dich verlassen, das weiß ich. Du bist wirklich toll. Erinnerst du dich noch daran, wie wir mal alle gefoppt haben, indem wir so taten, als könne ich die ganze Odyssee von Homer Simpson auswendig? In echt hast du mir bei jedem Vers einen Spickzettel vor die Nase gehalten! Wir sind schon zwei gewiefte Ganoven, und ich will dich ja auch gar nicht loswerden.
Sicher kannst du auch außerhalb von mir gar nicht existieren. Daher kommt eine Trennung für uns beide eh nicht in Frage. Und ich schwöre dir: Darüber habe ich auch nicht für den Bruchteil einer Sekunde nachgedacht! Obwohl ich mich hin und wieder mit dir etwas unwohl fühle. Das ist jetzt aber nicht persönlich gemeint.
Dennoch: Du scheinst manchmal, wenn ich dich am dringendsten bräuchte, mental etwas abwesend zu sein. Weißt du noch, wie mir in der Prüfung etwas nicht mehr einfiel, obwohl ich es zuvor tausend Stunden gelernt hatte? Und als ich bei der Fahrprüfung nicht mehr links und rechts unterscheiden konnte? Und als ich beim verblödeten Optiker vergessen hatte, dass ich gar keine Brille brauche? Das war echt mies von dir!
Und das ist noch das Harmloseste, was mir an deinen Verfehlungen gerade durch den Kopf schießt. Andererseits kann ich eine Rolle rückwärts und einen Salto mortale plus durch einen Feuerreifen hüpfen, aber das hat ja nichts mit dir zu tun.
Also zurück zu dir, liebes hochverehrtes Gehirn: Du hast mir nie gesagt, ob es für dich in Ordnung ist, wenn ich dich einfach duze. Du sagst mir generell wirklich wenig überlebenswichtige Sachen. Ich kann zwar „Schorke mit der Gorke“ auswendig, aber ich habe nicht den blassesten Schimmer, wie viele Bundesgerichtshöfe es in Deutschland gibt. Zwei, drei oder unzählige?
Und wo wir beim Thema sind: Ich weiß ja zu schätzen, dass ich sogar mit dir bis heute überlebt habe, das grenzt ja beinahe an ein Wunder, aber einen Gefallen müsstest du mir bitte bei allem Respekt noch tun: Bitte, bitte, bitte lass mich nie wieder vergessen, dass ich unter gar keinen Umständen aus allen Orten der ganzen Welt Urlaubspostkarten verschicken darf. Denn sonst schicken alle Empfänger morgens um sieben Dankes-SMS zurück und lassen mich dadurch senkrecht im Bett stehen. Vielen Dank für deine Aufmerksamkeit und bis morgen in alter Frische, du vertrottelter Trottel.
Liebe Grüße, deine Corinna
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