Computerassistierte Operationen: Ein neues Menschenzeitalter

taz FUTURZWEI-Kolumnist Udo Knapp trifft den da-Vinci-Roboter und spürt plötzlich Zukunftsvertrauen.

Arme des »da-Vinci«-Roboters für minimalinvasive Operationen greifen zu Anschauungszwecken nach kleinen Ringen Foto: picture alliance/dpa

Von UDO KNAPP

taz FUTURZWEI, 07.03.2023 | Man könnte fast versucht sein, die Aussicht aus dem 20. Stock der Charité auf die bis zum Horizont reichenden Hochhaus-Kieze von Berlin mit einem Blick von der Akropolis hinunter auf Athen zu assoziieren. Man könnte alle aktuellen Dramen in der deutschen Hauptstadt in Zukunftsvertrauen versenken, wenn man tatsächlich Dingen begegnet, die Zukunft setzendes Denken und Fühlen beflügeln – einem Wetterleuchten aus dem noch fernen Morgen gleich. Ein solches Leuchten von Morgen ist der da-Vinci-Roboter.

Vor gut 500 Jahren begann mit Leonardo da Vinci und anderen der Ausbruch aus der Enge des Mittelalters in die moderne Welt. Der Christengott wurde, auch wenn es hinreißend anders dargestellt und erzählt wurde, aus seinem allein seligmachenden Herrscherhimmel vertrieben. Leonardo war Maler, Naturwissenschaftler, Ingenieur, Architekt und Humanist; einer der Großen in der nun einsetzenden Aufklärung. Er und einige Zeitgenossen, die geistige Elite jener Tage, entdeckten bei den alten Griechen den Menschen als das Zentrum aller Dinge wieder. Auch Scheiterhaufen und Religionskriege konnten den Siegeszug der Menschen zu sich selbst nicht mehr aufhalten. Am Wärmestrom der Zivilisation, der bis heute aus Athen über Rom und die Renaissance zu uns Heutigen fließt, feiert und bekräftigt sich freies Denken und Handeln der Menschen immer von Neuem.

Weil vor 500 Jahren da Vinci mit seinen anatomischen Zeichnungen der modernen, faktenbasierten Naturwissenschaft und der Medizin den Weg gewiesen hat, trägt heute ein Roboter für komplizierte Tumor-Operationen zu Recht da Vincis Namen und markiert einen historischen Quantensprung in ein neues Menschenzeitalter.

Ein Arzt bedient den »da-Vinci«-Operationsroboter Foto: picture alliance/dpa

Der da Vinci-Roboter bewegt sich wie eine vielarmige Metall- und Plastik-Krake. Er ist bewehrt mit Messern, die sich 360 Grad und in alle Richtungen präzise bewegen lassen, hat Kameras in jedem Kopf und ein großes digitales Gedächtnis. Neben ihm steht sein Rechner und sein Speicher. Der zu operierende Mensch wird unter ihn geschoben. In einer Ecke im OP sitzt vor einem hochauflösenden Monitor und einigen Steuerungs-Devices der Operateur, Professor Bertrand Guillonneau. Neben ihm sitzen noch zwei Kollegen, die mit ihm bei der Operation zusammenarbeiten.

Die da-Vinci-Roboter-Köpfe werden über minimalinvasiv hergestellte Öffnungen in den Körper des zu Operierenden eingebracht. Sie werden dann vom Operateur an allen anderen Organen vorbeigeführt; dahin, wo er sie für seine Aufgabe braucht und einsetzt.

Medizinisches Neuland

Professor Guillonneau ist Franzose und ziemlich locker, lässig und ungezwungen. Er ist ganz offensichtlich ein Weltbürger, der von einer berühmten Tumor-Klinik in New York nach Berlin gewechselt ist. Jeden Tag radelt er in Jeans, einfacher Wetterjacke und einem kleinen Rucksack auf dem Rücken aus dem Prenzlauer Berg in die Charité.

Damit jetzt keine Missverständnisse aufkommen: Der Professor operiert selbst. Sein da-Vinci-Roboter ist sein Instrument für diese Art computerassistierter Operationen.

Der aufgeklärte Geist der Renaissance und da Vinci sind also im OP anwesend, wenn sich Professor Guillonneau in das medizinische Roboter-Neuland vorarbeitet. KI-basierte Diagnostik und Therapien sind Datenverarbeitungsmedizin. Dieses aufgeklärte Neue ist etwas, dem sich die alltägliche Medizin erst noch öffnen muss. Je mehr Daten die behandelnden Ärzte haben, desto genauer können sie ihre Diagnosen und Therapien für jeden Einzelnen so konkret zuschneiden, wie nur er sie braucht. Sogar die Medikamente können auf diesem Weg personalisiert hergestellt werden

Arme des »da-Vinci«-Roboters greifen zu Anschauungszwecken nach kleinen Ringen Foto: picture alliance/dpa

Es ist erstaunlich, aber Ängste vor fremdbestimmtem Überwältigtwerden durch außer Kontrolle geratene Datenkraken wirken im Angesicht des da-Vinci-Roboters und seinen Möglichkeiten wie seinerzeit der Modernisierungshass der Maschinenstürmer.

Michelangelo, Lorenzo Lotto, die Bellini-Brüder und Tizian, Petraca, Dante und Boccacio, Mirandola, Palladio, Dürer und so viel andere haben Würde und Schönheit in unser Bild vom Menschen eingeschrieben, vor dem wir Zukunft suchend immer wieder niederknien. Wenn ich mir Professor Guillonneau am da-Vinci-Roboter mit seinen Joysticks hochkonzentriert operierend vorstelle, schreibt er dann vielleicht im Sinne der Aufklärer die Geschichte der modernen Welt und die würdevolle Zukunft von uns allen weiter? Arbeitet er schon in der digital und KI-bestimmten Menschenzukunft, von der noch gar nicht klar ist, wie sie konkret aussehen wird? Für diesen nächsten großen Schritt haben seine Protagonisten noch keine Bilder und keine Ästhetik erschaffen, in der die Menschen der zukünftigen Jahre sich als Subjekte in ihrer digitalen und KI-bestimmten Welt in ihrer vollen Menschenwürde wiedererkennen und feiern könnten.

Wenn am Abend die Fenster der Stadt bis weit hinaus zu ihren Rändern hell aufscheinen, wenn Auto, Eisen- und S-Bahnen und das Gebrüll der Notfallwägen Melodien und Geschichten in den 20. Stock des Bettenturmes der Charité wehen, und ich spüre, dass da Vinci auch im Zimmer ist, dann wächst aus der Stadt Menschen- und Zukunftsvertrauen herüber.

UDO KNAPP ist Politologe und kommentiert an dieser Stelle regelmäßig das politische Geschehen für taz FUTURZWEI.

.
.