Chirac, die Stimme und Ehre Frankreichs

Das Hauptthema des gewandelten Staatspräsidenten lautet Irak. Praktisch, dass dies mit wirtschaftlichen Interessen übereinstimmt

aus Paris DOROTHEA HAHN

Die Stimme Frankreichs ist wieder da. Laut und unüberhörbar ertönt sie aus dem Munde von Jacques Chirac, der in diesen Tagen omnipräsent ist – von der EU über die Nato und die UNO bis nach Afrika. Der 70-Jährige schmiedet Allianzen mit Berlin, Brüssel und Moskau. Er belehrt seine Kollegen in Washington und London, dass „Krieg immer die schlechteste Lösung“ sei und es dazu „noch eine Alternative“ gebe. Und er maßregelt die Regierungen der osteuropäischen Beitrittsländer wie ein gestrenger Vater als „kindisch und ungeschickt“, weil sie sich ohne Rücksprache mit der EU hinter die USA gestellt haben.

Angesichts so viel globalen Aktionismus bleiben die Reaktionen nicht aus. Sie reichen von Boykottüberlegungen im Establishment der USA über beleidigte Antworten aus Osteuropa bis hin zu Chirac-Huldigungen in weiten Teilen der Welt. Zuletzt setzte Chirac die französischen Interessen in der tief gespaltenen EU durch. Da schlenderte der Franzose, der heute amtsältester Politiker in der Runde ist, am Dienstagabend gelassen mit einem Glas Bier in der Hand zu der Irak-Krisensitzung in Brüssel. Wenige Stunden später war die erste halbwegs klare Irak-Resolution aller 15 EU-Länder seit langem fertig. Mit ihrem Bekenntnis zur Entwaffnung des Irak, zur Fortsetzung der Mission der UN-Inspektoren und zur Gewalt als „letztem Mittel“, ist sie der französischen Linie zum Verwechseln ähnlich. Selbst die Beitrittsländer schlossen sich tags drauf der EU-Linie an, die ohne sie beschlossen worden war.

So viel politischen Erfolg hatte Chirac nicht immer. Der Mann, der heute als ernst zu nehmender Gegenspieler von George W. Bush gilt und den selbst Ökopaxe in Antikriegsdemonstrationen hochleben lassen, hat eine durchwachsene erste Amtszeit hinter sich. Sie begann mit Atombombentests im Pazifik, die ihm 1995 den Beinamen „Hirochirac“ eintrugen, und reichte über die Auflösung der Nationalversammlung im Jahr 1997, die ihn seiner eigenen Mehrheit beraubte, bis hin zu der fünfjährigen Kohabitation mit einer linken Regierung, die ihn innen- und außenpolitisch lähmte. Hinzu kamen Enthüllungen über dubiose Finanzgeschäfte in seiner Zeit als Bürgermeister von Paris.

Chirac ist wie ausgetauscht, seit ihn im vergangenen Mai 82 Prozent der Franzosen wiedergewählt haben. Auslöser für das triumphale Ergebnis war Angst vor einem rechtsextremen Wahlsieg. Das Resultat ist ein neuer Chirac. Der wirkt so jung, dynamisch und entspannt, wie der alte Staatspräsident nie war. Er hat beide Hände frei. Verfügt über eine Regierung seiner Wahl und über absolute Mehrheiten in fast allen Institutionen des Landes. Während seine rechten Truppen sich um die Innenpolitik kümmen und im Windschatten der Kriegsvorbereitungen eine Wahlrechtsreform ohne Debatte und ohne Abstimmung im Parlament durchpauken, konzentriert sich Chirac ganz auf das präsidentielle Privileg: die Außen- und Militärpolitik.

Vorbild ist die Doktrin von de Gaulle, der die USA in den 60er-Jahren die Stimme Frankreichs fürchten ließ – unter anderem mit dem spektakulären Austritt Frankreichs aus der militärischen Nato-Integration. Wie damals ist unter dem neuen Chirac die Außenpolitik wieder Chefsache geworden. Von der wiederbelebten deutsch-französischen Beziehung bis zur Aufstockung der französischen Präsenz in den ehemaligen Kolonien in Afrika.

Das Hauptthema des neuen Chirac ist der Irak. Da befindet er sich innenpolitisch in Übereinstimmung mit seinen Landsleuten, von denen ihn nach Umfragen 83 Prozent unterstützen. Und wo selbst die Chefin der kommunistischen Partei, Marie-George Buffet, sagt: „Er ist die Ehre Frankreichs.“

In den USA hat Chirac in einem Interview mit dem Time-Magazine beteuert, er sei nicht nur ein „Freund der Amerikaner“, sondern auch: „kein Pazifist“. Dort war diese Präzision nötig. In Frankreich hingegen ist bekannt, dass Chirac seit Beginn der Irakkrise einen Spagat vollzieht: zwischen der Verteidigung des Friedens einerseits und der Vorbereitung eines Krieges andererseits.

Die offiziell „moralisch“ begründete Aktion gegen den Krieg steht praktischerweise im Einklang mit den Interessen des größten französischen Unternehmens. TotalElfFina soll nach britischen Geheimdienstberichten bereits in den 90er-Jahren Vorverträge auf Erdölförderrechte mit dem Irak abgeschlossen haben. Wie Russland und China wollte Frankreich damit für die Zeit nach dem Ende des Embargos vorsorgen.

Saddam Hussein lernte Chirac – damals Premier – 1975 in Frankreich kennen. Er verkaufte dem Gast aus Bagdad Raketen, Kriegsflugzeuge und das (längst von Israel bombardierte) AKW Osirak und machte ihm als viel versprechendem laizistischen arabischen Führer Komplimente. Heute sagt die Stimme Frankreichs über Saddam Hussein: „Wenn er verschwände, würde er seinem Volk und der Welt einen großen Dienst erweisen.“