■ Chancen der zivilen Dimension des Dayton-Abkommens: Das große Rätselraten
Die Hoffnungen, daß das Abkommen von Dayton endlich den Frieden in Bosnien-Herzegowina bringen könnte, sind so groß, daß ihnen die Skepsis, die schon wegen der vielen Unbekannten angebracht ist, oft weicht. Skeptisch stimmt vor allem folgender Umstand: In den zurückliegenden Kriegsjahren hat sich die internationale Gemeinschaft durch unglaubliche Trägheit ausgezeichnet – wo promptes Handeln nötig gewesen wäre, um das Morden zu stoppen. Im Bild ausgedrückt verhielt sich die internationale Gemeinschaft mit den Mächtigen an der Spitze wie jemand, der gemächlich in seiner Luxuslimousine an verblutenden Verwundeten auf der Autobahn vorbeifährt und nicht einmal die Erste Hilfe anfordert. Auf der anderen Seite will man jetzt den wackligen Friedensplan im Tempo von Zeichentrickfilmen durchboxen.
Alles, was naturgemäß Zeit braucht, soll sofort verwirklicht werden. Auch wenn jetzt alle Beteiligten in gleichem Arbeitstempo anpacken würden, in dem Mr. Holbrooke die Einigung der „Kriegsparteien“ zusammenschusterte, wären noch immer einige Wundermittel nötig, um in einem Jahr halbwegs eine Normalisierung zu erreichen. Dayton sieht nach der militärisch unterstützten Durchsetzung der territorialen Teilung vor, die Rückkehr der vertriebenen Bevölkerung und sogar freie Wahlen durchzusetzen. Die Ziele im zivilen Bereich sind von solcher Art, daß sie die politische Teilung aufheben würden. Weil dies schwer vorstellbar ist, lautet die Meinung vieler „Beobachter“, daß es sich dabei nur um ein die Teilung beschönigendes Zierwerk handelt, das keinerlei ernsthafte Realisierungschance hat.
In der Tat, wie sollen denn freie Wahlen etwa in Srebrenica oder Zvornik oder Prijedor aussehen? Wahlen, die diesen Namen verdienen, setzten voraus, daß die ursprüngliche Bevölkerung ihre Vertreter aus ihren früheren Wohnorten bestimmen könnte. Wahlen, die dieser Anforderung nicht genügen, sind von fragwürdiger Legitimität. Wenn serbische Statthalter von Karadžićs Zuschnitt die Wahlen in den von ihnen okkupierten oder usurpierten Städten und Wahlbezirken organisieren, wird deren Ergebnis das gleiche sein wie das der jüngsten serbischen Referenda: Erst hat man die Mitbürger nichtserbischer Nationalität vertrieben – im eigenen Jargon: „ethnisch gesäubert“ –, um danach mit rein serbischen Stimmen den Anspruch auf die betreffenden Gebiete mit 99 Prozent Zustimmung zu bekräftigen. Was wollen die feinen Herrschaften, denen die Demokratie so teuer sein sollte, mit ihrem Auftrag an die OSZE, für die „zivile Implementierung“ zu sorgen, eigentlich erreichen? Nichts tun können sie ja nicht! Aber wie die Dinge stehen, wird alles, was unter den Titeln Rückführung, freie Wahlen, Menschenrechte usf. von verschiedenen Beauftragten unternommen wird, nicht mehr als Farce und Simulation sein können.
Das erste Indiz dafür ist das Reagieren der Weltgemeinschaft auf das Klagelied der Serben aus Sarajevoer Stadtteilen und Vororten, dem die Aufmerksamkeit aller Medien zuteil wurde. Hier wird einfach alles auf den Kopf gestellt. Die Serben sagen klipp und klar, daß sie nicht mit den Muslimen zusammenleben wollen, und das hört sich übersetzt in die westliche Sprache so an, daß man sich um die Rechte der Serben bei der vorgesehenen Integration kümmern muß. „Menschenrechte!“ – das interessiert sie doch gar nicht. Sollte die Integration gelingen, wird die Mehrheit der Serben abziehen, so wie es in den rückeroberten Gebieten Kroatiens geschah. Das gleiche ist für Ostslawonien zu erwarten, das noch unter serbischer Kontrolle ist und wieder in den kroatischen Staat eingegliedert werden soll. Keine Aufmerksamkeit erfahren hingegen die Kroaten aus der Posavina, die von den Serben vertrieben wurden und massiv in Zagreb gegen das Dayton-Abkommen protestieren. Ihre Menschen- und Heimatrechte liegen offenbar niemandem am Herzen, ebenso wie die der Kroaten und Muslime aus Banja Luka. Solche Ungleichheit in der öffentlichen Aufmerksamkeit verspricht nichts Gutes.
Das Problem ist, daß das Abkommen und der Friedensplan die Frage ignorieren, wer den Krieg verursacht hat. So müßte der zivile Aufbau der Gesellschaft und des Staates im Stillen nicht nur die Folgen der Teilung aufheben, sondern auch einen indirekten Sieg über den Aggressor herbeiführen. Also eine Politik, die mit friedlichen Mitteln seine Kriegsziele vereitelt. Obwohl das ziemlich phantastisch klingt, gibt es eine reale Chance für die Rekonstruktion der zivilen Gesellschaft, die das System der ethnischen Herrschaft von innen kippen könnte. Diese Chance heißt Banja Luka.
Zwar wurde in der Stadt und der Region seit der serbischen Machtusurpation noch im Jahr 1991 systematisch die nichtserbische Bevölkerung terrorisiert und vertrieben; Banja Luka war auch das operative Zentrum des Krieges, und dennoch ist diese Stadt der einzige Ort unter serbischer Kontrolle, in dem die Serben für verschiedene politische Optionen, sogar die des einen bosnisch-herzegowinischen Staates, eintreten. Dort hat sich trotz allem auch ein Stück Urbanität erhalten, was wohl auch damit zusammenhängt, daß es in Banja Luka nennenswerte Opposition zu Karadžić und tutti quanti gibt. In seinem Hausarrest ist der katholische Bischof Komarica zu einer Institution der Menschenliebe und der inter-ethnischen Toleranz geworden – eine einmalige Anknüpfungsmöglichkeit. Dort könnte man mit der Rekonstruktion der Zivilität, der Rückführung der Vertriebenen und Normalisierung der Beziehungen anfangen. Außerdem: Von seiner Lage her ist Banja Luka auf Kroatien angewiesen. Nur dort ist es vorstellbar, daß das jetzige serbische Regime abgewählt werden könnte.
Natürlich bedürfte es dafür eines energischen, ja robusten Engagements der internationalen Instanzen. Daß solche Elemente wie Karl Bildt diese Möglichkeit begreifen und das Nötige unternehmen, ist aber ziemlich unwahrscheinlich. Was wird aus den hektischen diplomatischen Aktivitäten und unzähligen Konferenzen zur Umsetzung des Friedensplanes folgen, wenn es darauf ankommt, konkret zu handeln? Für die Umsetzung der hehren Ziele bedarf es der mit der militärischen Potenz der Nato-Truppen vergleichbaren Macht des politischen Durchsetzungswillens. Wer von jenen, die beharrlich vom „Bürgerkrieg“ sprachen, könnte ihn plötzlich aufbringen? Die diplomatischen Friedensstifter werden auch weiterhin das Ungleiche „gleich“ behandeln und somit letztlich die Separation unterstützen. In der bosnisch- kroatischen Föderation ist damit ewiger Streit vorprogrammiert. Eine Gesellschaft wird es auf diesem Wege nicht geben. Dunja Melčić
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