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Cha-Cha-Cha-Chaos

Auch dank handfester, krimineller Aktionen bildeten die Chaostage von 1995 in Hannover ihren Mythos aus. Was spricht eigentlich heute noch fürs Plündern – und wie sichert man sich vor Regressansprüchen in der Zukunft?

Nix da nett Gammeln: Im August 1995 waren die Zugriffe der Polizei durchaus rabiat Foto: Holger Hillermann/dpa

Von Lotta Drügemöller

Chaostage? Gab es viele – und viele sind vergessen. Die aus Hannover haben ihren Ruhm sicher auch daher, dass sie so handfest waren: Nix da mit nettem Gammeln am Brunnen, sondern beknackte, abgefuckte AktionAktionAktion! Punk und Penny und Plündern, das ist dabei eine astreine Assoziationskette. Chaostage, die den Namen verdienen, stiften Unruhe. Eigentum wechselt den Besitzer, ohne den dafür systemisch vorgesehenen Weg zu gehen. Plündern, fragen wir mit leise klopfendem Herzen, geht das heute noch?

Moralisch: Nein, sorry. Das ist die erste Antwort. Kapitalismuskritik hilft, ganz klar, gegen die Einwände von Ethik und guter Erziehung, aber trotzdem: Wenn man zu lange und zu tief drüber nachdenkt, kann man sie nur schwer so ganz beseitigen. Das geht nur mit Bausch und Bogen.

Der Kollege sagt dazu mutig: Die moralischen Bedenken, die seien eh ein Erbe des 20. Jahrhunderts. Gab es früher nicht! Denn siehe: Queen Victoria hatte ein Hündchen – die kleine Pekinesin wurde bei der Plünderung des Alten Sommerpalastes bei Peking 1860 erbeutet; Victoria benannte sie mit dem treffenden Namen Looty (loot = plündern). Keine Scham also, nur ein royales Augenzwinkern.

Na gut! Natürlich haben wir doch ein paar moralische Bedenken gegen diese Art der kolonialen Plünderung. Aber ist es nicht auch anders denkbar? Als praktische Umverteilung von oben nach unten? Als Selbstermächtigung? Weg vom Konsumenten, hin zum Menschen? Das ist natürlich Quatsch mit Pathos. Und das Schöne am Punk ist ja, dass er so etwas gar nicht unbedingt braucht.

Ganz praktisch: Es heißt manchmal, die DJ-Kultur in New Yorks Ghettos konnte erst nach dem Großen Stromausfall von 1977 durchstarten, bei dem die Stadt, die niemals schläft, eine ganze heiße Nacht lang dunkel war; unzählige Shops wurden geplündert. Am nächsten Tag hatten viele junge Menschen gute Mixer, Kopfhörer, Lautsprecher, Plattenspieler, mit denen eine neue Kulturtechnik an Fahrt aufnahm.

Ein solcher Effekt lässt sich mit einem Überfall auf Penny selbstredend nicht erreichen. Unter den Non-Food-Angeboten dieser Woche finden sich Akku-Staubsauger, sogenannte Flachbodenwischer und WC-Sitze mit Palmenoptik. Produkte, deren Wirkung sich eher auf individueller Ebene abspielt.

Wer jetzt als Plünderziel die Amazonlager in Winsen (Luhe) empfiehlt, weil er (oder sie) sich von den Produkten dort mehr Auswirkung auf die nächste große kulturelle Entwicklung erhofft, der denkt viel zu utilitaristisch, zu zweckgebunden. Das Charmante am Punk, das, was die Bewegung lange nach ihren mehrfachen Toden über Generationsgrenzen hinweg interessant macht, das ist doch eigentlich ihr Nix-Wollen-Können-Müssen.

Nix wollen, na ja. No future, das sagt sich so. Aber irgendwie kommt die Zukunft doch und wird zur Gegenwart, und die Menschen, manche zumindest, kommen mit und machen doch noch Pläne, irgendwo arriviert anzukommen. Fragen Sie mal die Beteiligten von 1995 (die, die noch leben): Mutmaßlich ist man heute an vielen Stellen ganz froh darüber, dass damals nicht jede Bewegung im Supermarkt von Kameras verfolgt wurde. Eine Punker-Kartei? Ha! Lächerlich, wenn die Polizei Palantir haben kann oder eine andere Spitzel-Software.

Plündern, fragen wir mit leise klopfendem Herzen, geht das heute noch?

Was also hilft im Hier und Heute gegen die automatische Gesichtserkennung und ihre Folgen im Morgen? Striche und geometrische Muster ins Gesicht malen, das sieht auf jeden Fall nach was aus und ist als moderne, punkige Ästhetik nur zu empfehlen. Aber ob's noch was bringt? Ein klares Jein. Der alte Tipp mit den Dreiecken ist schon seeehr 2010 – die KI lässt sich davon schon länger nicht mehr beeindrucken. Aktuell empfohlen wird Glitzer – aber „aktuell“, ach, das ist auch schon wieder 2020, und damit graue Vorzeit.

Vor drei Jahren haben Studis in den USA einen wilden Pullover herausgebracht, der nicht nur die KI, sondern sogar echte Menschen erfolgreich vom Gesicht darüber ablenken konnte. Aber der nächste Überwachungsschritt ist immer schon um die Ecke: Wenn Bewegungsmuster in den Fokus rücken und irgendwann Individuen identifzierbar machen, dann muss, wer nachhaltig unerkannt bleiben will, ein paar silly walks einüben.

Vertrauen jedenfalls kann man diesen Tipps nicht mehr – die Erfolgsquoten liegen je nach System bei zwischen 5 und 70 Prozent. Robustere Techniken bieten sich an: Kameralinsen ansprühen. Oder abmontieren. Oder ganz drauf scheißen.

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