■ Cash & Crash: Rationales Paradox
Berlin (taz) – Was für die Arbeitslosen Frust bedeutete, kam den Spekulanten an der Wall Street vergangene Woche offenbar sehr gelegen: Die Nachricht, daß es in letzter Zeit kaum neue Jobs in den Vereinigten Staaten gegeben hat. Auch die stagnierenden Verbraucherpreise und die sich nicht mehr so rasch füllenden Auftragsbücher goutierten die Aktionäre. Die Preise stiegen in die Höhe, schon näherte sich der Dow-Jones-Index der 30 führenden Aktien wieder der Rekordmarke vom letzten Januar.
Und dann, am Freitag letzter Woche, schmälerte eine Meldung für viele ihren schönen Wochengewinn: Die US-Industriebetriebe sind zu 84,7 Prozent ausgelastet. Damit werden die Kapazitäten um fast sieben Prozent mehr genutzt als ein Jahr zuvor. Und alles deutet darauf hin, daß es noch schlimmer kommt. Fast 40 Punkte schmierte der Dow- Jones-Index kurzfrstig ab.
Spinnen die Aktionäre? Bei schlechten Wirtschaftsnachrichten kaufen sie und treiben die Kurse in die Höhe, bei positiven Meldungen wollen sie ihre Papiere so schnell wie möglich loswerden. Wir wissen nicht, was in den Köpfen der Aktionäre vorgeht. Marktanalysten aber haben in ihrem Verhalten durchaus ein rationales Kalkül entdeckt: Wenn die Auftragsbücher voll sind, kommt es zu Lieferschwierigkeiten. Die Einzelhändler könnten versucht sein, die Warenknappheit für eine Preiserhöhung zu nutzen. Das wiederum könnte die Inflation anheizen. Um dem entgegenzuwirken, müßte die US-Notenbank zum sechsten Mal in diesem Jahr an der Zinsschraube drehen. Und steigende Zinsen lassen nur in den seltensten Fällen auch steigende Aktienkurse zu, weil es den meisten Spekulanten dann sinnvoller erscheint, das Geld direkt anzulegen und dafür zu kassieren.
Umgekehrt nehmen die Aktionäre alle Zeichen einer Konjunkturflaute als Hinweis dafür wahr, daß die Inflation nicht steigt, die Zinsen somit nicht angehoben werden und auch andere Leute weiter Aktien kaufen wollen. Sie behalten also ihre Papiere und kaufen noch mehr hinzu, wenn sie über das nötige Budget verfügen.
Diese Woche steht der US- amerikanischen Börse vermutlich eine erneute Berg-und-Tal- Fahrt bevor. Am Wochenanfang wußten die Aktionäre nicht so recht, auf was sie reagieren sollten – so blieben die Kurse relativ stabil. Für gestern wurden immerhin die Daten der Handelsbilanz für Juli erwartet. Heute steht die Veröffentlichung der Wohnungsbauzahlen und am Freitag die Erklärung der Regierung über das Haushaltsdefizit für August an. Außerdem trifft sich der japanische Außenminister Yohei Kono mit US-Präsident Bill Clinton, um über das amerikanische Handelsbilanzdefizit zu plaudern. Bis zum 30. September haben die beiden Zeit, sich über Maßnahmen zu einigen; ansonsten will Präsident Clinton über Sanktionen gegen den asiatischen Inselstaat nachdenken.
Welche Konsequenzen die Ereignisse jeweils in der Wall Street zeitigen, weiß niemand. Im nachhinein aber wird es wieder Erklärungen für das Verhalten der Aktionärsherde geben. Annette Jensen
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen