CannesCannes: Süße geflügelte Schweine
■ Ken Loach: pulvertrocken. Larry Clark: elektrifizierend!!
Politik ist bööse, aber wichtig, sang schon vor Jahren völlig zu Recht Rio Reiser, und so lasse man denn alle notwendige Milde walten, wenn Ken Loach einen Film über den Spanischen Bürgerkrieg dreht. Mit beiden Beinen fest auf dem Boden der IV. Internationale, sind seine Lieblings-Republikaner die revolutionären Sozialisten von der POUM, während die Internationalen Brigaden im Handumdrehen zu einem Haufen stiernackiger Stalinisten werden. Wenn man die Augen zumacht und ganz fest daran glaubt, würde man wohl unter Englands arbeitenden Trotzkisten noch die Zünglein ihrer Flammen spüren.
Die Rahmenhandlung legt jedenfalls Ähnliches nahe: Die Enkelin eines Aktivisten findet nach dessen Dahinscheiden in Manchester einen Koffer mit Fotos, Briefen und ein bißchen spanischer Erde, und wenn es filmisch vielleicht auch nicht besonders originell ist, wenn es auch nicht zum wirklichen Schlachtengemälde reicht, sondern nur zu ein bißchen knochentrockenem Pulverstaub, so trägt das Ganze doch als Pamphlet. Als Gruß mit gereckter Faust an ein paar hochanständige Männer und Frauen, die es übrigens auch ganz gut miteinander hatten da oben in den Bergen.
Daß es mit den Geschichtsfilmen nicht mehr so richtig klappt, liegt bei Loach („Riff Raff“) sicher zum einen an seinem Händchen für das Filmen im Liverpooler Wohnzimmer, wo er vielleicht man besser geblieben wäre. Es liegt aber auch daran, daß höchstens noch Merchant/Ivory sich den festen Griff auf die Epochen zutrauen. Wer würde heute etwas wie „1900“ noch anfassen?
Um es einstweilen kurz zu machen: Larry Clark war da mit „Kids“. Wenn dieses Festival irgendeinen Sinn hat, muß „Kids“ der diesjährige „Pulp Fiction“ werden: auch hier produziert ein Fan, kein Pädagog. „Elektrisiert“ ist vielleicht kein so schlechter Ausdruck für das Gefühl beim Zusehen; man wird plötzlich ganz Haut, ganz New Yorker Hochsommer, Battery Park, Schweiß, Sperma, Skateboards. Alle fragten sich natürlich, was passieren würde, wenn die Teenangels, die auf seinen Fotos herumliegen, plötzlich in Aktion treten, und hier sind sie nun, seine süßen Schweine mit Flügeln: quecksilberschnell flitzen sie durch die Stadt auf der Suche nach dem nächsten Fick, und damit ist nicht die Sesamstraße gemeint. Das Publikum in beiden großen Vorstellungen (also Presse und Mann von der Straße) trampelte mit den Füßen, mein Nachbar, der während des gesamten Films tachykardisch mit seinem Kugelschreiber auf sein Knie eingestochen hatte, rief aus vollem Herzen „buh!“. Oder war es wirklich das Herz?
Auf dem Markt übrigens, einer sonderbaren Einrichtung mit lauter kleinen Filmzellen, in denen Verleiher aus- und einschwärmen und sich ihr Jahresangebot zusammenstellen, herrscht eine neue Form von Hektik. Weil die großen Verleihe innerhalb von Amerika nicht mehr auf ihre Kosten kommen, stürzen sie sich jetzt auch auf die Independents und drängeln so die lokal operierenden Kleinstaktivisten vom Platz. Auf diesem Markt laufen nun nicht nur der neue Schlingensief und der nächste Film mit John Travolta oder so, sondern auch schlichte Pornos und Ramsch in großem Stil. Mariam Niroumand
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