CHRISTIAN FÜLLER ÜBER DIE MISSBRAUCHSSKANDALE AN DEUTSCHEN INTERNATEN : Notfalls auflösen
An Internaten war das Zusammenleben von Lehrern und Schülern immer schon intensiver als an normalen Schulen. Lehrer müssen mit Distanz und Nähe anders umgehen, wenn sie nicht nur am Vormittag mit ihren Schülern zu tun haben, sondern praktisch 24 Stunden. Dabei sind, wie sich jetzt zeigt, schwere Fehler gemacht worden, die Verbrechen begünstigt haben. Die katholische Praxis, übergriffige Pater zur Bewährung ins nächstbeste Internat abzukommandieren, war ein unwirksames Gegenmittel. Wenn man Kinder wirksam vor pädophilen Pädagogen schützen will, muss man andere Sicherheitsmaßnahmen treffen.
Die Odenwaldschule hatte das getan. Dass dort der ehemals renommierter Reformpädagoge Gerold Becker einen Schüler zum Sex nötigte, wurde vor zwölf Jahren strikt geahndet: Becker musste gehen, der Staatsanwalt wurde eingeschaltet. Die Schule selbst veranstaltete 1999 eine Tagung und richtete einen gut funktionierenden „Ausschuss zum Schutz vor sexualisierter Gewalt“ ein, in dem Lehrer wie Schüler vertreten sind.
Dennoch hat auch das nicht gereicht. An der Odenwaldschule werden gerade weitere Fälle bekannt – die wiederum aus den Siebziger- und Achtzigerjahren stammen. Es zeigt, dass manche Opfer eben sehr viel mehr Zeit brauchen, sich zu offenbaren, als mancher sich das vorstellen mag. Daher sollten sich an der Aufklärung derartiger Vorkommnisse jetzt alle Internate und Privatschulen beteiligen – und zwar sofort. Für manche betroffene Einrichtung wird es dabei wohl nur einen Schritt geben können: Sich aufzulösen – und, wenn das überhaupt noch möglich ist, sich neu zu gründen. Das gilt sicher für Kloster Ettal. Aber möglicherweise auch für die Odenwaldschule.
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