■ Bunsenbrenner: Chaos zwischen Geist und Natur
Die alten Griechen haben dem Unbenennbaren einem Namen gegeben: Chaos. Sie meinten damit den Urzustand der Erde, die Unordnung vor der Erschaffung der Welt. Bei Aristoteles war der Begriff noch wichtig, später verlor er an Bedeutung. Als aber später der Mathematiker Benoit Mandelbrot in den späten sechziger Jahren seine Fraktale vorstellte und mit einfachen Formeln chaotische, aber sehr naturnahe und ästhetische Formen beschrieb, wurde die Chaosforschung populär: Der uralte Begriff kam hier zu neuem Glanz.
Zweihundert Jahre lang hatten die Wissenschaftler geglaubt, daß ihnen am Ende kein Naturgesetz verborgen bleibe, und sich die Dinge mit jeder neuen Regel besser vorhersagen ließen. Heute begreifen sie: Das Chaos ist die Regel, die Vorhersagbarkeit, die Ausnahme.
Das gilt für belebte und unbelebte Systeme: Zigarettenrauch steigt aus der Glut zunächst kerzengerade empor, alles scheint geordnet. Doch plötzlich zerfasert der graue Strom in wilde Turbulenz, die keiner der bekannten klassischen Formeln aus der Physik gehorcht: Ein Ökosystem – etwa ein See – fällt nach einer winzigen Störung überraschend in tödliches Chaos, obwohl es vorher jahrelang jede Beeinträchtigung mit ungeheurer Lebenskraft ausgeglichen und aufgefangen hat. Chaos beschäftigt aber nicht nur die Naturwissenschaft. Wirtschaftler grübeln über Börsenkurse, die unberechenbar reagieren, und der Streit zwischen Völkern erscheint den Politikprofessoren ebenfalls als nicht vorhersehbar.
Es gibt Chaos also in vielen Variationen. Das Einstein-Forum, eine Stiftung des Landes Brandenburg, hat ihnen kürzlich sogar eine eigene Tagung gewidmet. Die Veranstalter wollen Geistes- und Naturwissenschaftler miteinander ins Gespräch bringen. Eingeladen waren dann auch Physiker, Chemiker, Literaturwissenschaftler und, als Festredner, Professor Mandelbrot persönlich.
Aber das Chaos zwischen Geist und Natur blieb. Mit jedem Vortrag wurde klarer: Das eine Chaos gibt es nicht, jeder erforscht und bespricht ein anderes. Der Quantenphysiker steht ratlos, aber fasziniert vor einem speziellen Billiardtisch, auf dem keine Kugel mehr läuft, wie erwartet, während der Literaturwissenschaftler schon lustvoll schildert, wie Tieck seine Leser in reizvolle Verwirrung stürzt, indem er der Lesererwartung zuwiderschreibt. Da jeder Redner unter dem selben Wort etwas anderes verstand, war der Dialog schwer.
Damit ist eines zumindest klar: Wer Chaos sagt, muß erklären, welche Ordnung, welche Erwartung verletzt ist, damit ihn der Kollege aus der anderen Disziplin versteht. Es gibt nur einen größten gemeinsamen Nenner, und den kannten schon die alten Griechen: Chaos ist der Name für das Unbenennbare. Volker Bormann
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