Bundesweiter Bildungsstreik: Polizei benutzt Pfefferspray
Die Studenten- und Schülerproteste erreichten heute ihren vorläufigen Höhepunkt. Es gab Festnahmen in Wiesbaden, Essen und Bochum. Eine Übersicht über die Aktionen gibt es hier.
BERLIN/DÜSSELDORF dpa/rtr/afp/taz | Mit einem bundesweiten Aktionstag haben am Dienstag mehrere zehntausend Studenten gegen Mängel im Bildungssystem protestiert. Im Zuge des Bildungsstreiks an Universitäten und Schulen gab es nach Veranstalterangaben Demonstrationen und Kundgebungen in mehr als 50 Städten. Schwerpunkte waren unter anderem Berlin, München und Wiesbaden.
Der Aktionstag sollte nach Angaben einer Sprecherin des Bildungsstreik-Bündnisses den "Auftakt zu einem heißen Herbst" markieren. Demonstration gab es unter anderem in Köln, Hannover, Duisburg, Essen und Bonn. Weitere Proteste sind demnach während einer Ende November beginnenden Aktionswoche geplant. Am 10. Dezember wollen Studenten beim Treffen der Kultusministerkonferenz (KMK) in Bonn demonstrieren. Unter dem Motto "Kultusminister nachsitzen" ist dabei eine Blockade am Tagungsort der KMK geplant.
Der bereits im Sommer begonnene Bildungsstreik richtet sich vor allem gegen die im Zuge der Bologna-Reform eingeführten neuen Bachelor- und Masterstudiengänge sowie gegen Studiengebühren. Unterstützung erhielten die protestierenden Studierenden vom Deutschen Studentenwerk (DSW). "Der zweite Bildungsstreik dieses Jahres, die zweite Protestwelle der Studierenden ist berechtigt", erklärte DSW-Präsident Rolf Dobischat in Berlin. "Unterfinanzierte Hochschulen, schlechte Studienbedingungen, ein extrem selektives Hochschulsystem, Studiengebühren, eine absolut mangelhafte Umsetzung der Bologna-Reform - die Studierenden pochen zu Recht auf Verbesserungen, und ich kann nicht erkennen, dass sie es gegenüber dem Sommer radikaler tun."
Der Deutsche Gewerkschaftsbundes (DGB) erklärte sich solidarisch mit den Studenten. In einer bereits am Dienstag veröffentlichten Erklärung forderte der Geschäftsführende DGB-Bundesvorstand "ein gutes Bildungswesen, das gleiche Chancen für alle Menschen garantiert". Das deutsche Bildungswesen hingegen sei "Weltspitze in sozialer Auslese". Auch die DGB-Bildungsgewerkschaft GEW unterstützte die Forderung nach besserer Bildung. "Die Bundesrepublik braucht eine Kehrtwende in der Bildungspolitik", forderte GEW-Chef Ulrich Thöne in Frankfurt am Main.
Der Deutsche Philologenverband (DPhV) kritisierte hingegen, dass die Proteste hinsichtlich der Forderungen ein "sehr diffuses Bild" abgäben und weiterhin "durch linksextreme und politikunfähige Organisationen entscheidend mitgestaltet werden". Dadurch werde die "auf konkrete Verbesserungen ausgerichtete Stoßrichtung der Proteste" geschwächt, erklärte der DPhV-Vorsitzende Heinz-Peter Meidinger in Berlin. Damit seien Chancen verpasst worden, weil die Gelegenheit und Zeit zur Durchsetzung berechtigter Anliegen in der Bildungspolitik noch nie so günstig gewesen seien wie jetzt.
Der Deutsche Lehrerverband vertrat die Auffassung, die Lage an den Unis werde sich in naher Zukunft noch verschärfen. "Ein viel größeres Problem als die nicht gelungene Bologna-Reform ist die Frage, wie die Universitäten ab dem Jahr 2011 die doppelten Abiturjahrgänge bewältigen sollen", sagte Verbandspräsident Josef Kraus der "Neuen Osnabrücker Zeitung" (Dienstagsausgabe). Am Bildungsstreik beteiligten sich auch Schüler. Sie kritisieren unter anderem die Schulzeitverkürzung in fast allen Bundesländern.
Demonstrationen in Deutschland
In Berlin haben 15.000 DemonstrantInnen an der Demo teilgenommen. Die taz-Belegschaft hat aus dem dritten Stock Schokoladen-Care-Pakete in die Menge geworfen. Die Senatssitzung an der HU ist ohne Erfolg geblieben. Die vorgetragenen Punkte der Studierenden wurden abgelehnt bzw. auf nächsten Monat vertagt.
In Jena kam es zu Handgreiflichkeiten mit der Polizei, unter anderem wurde Pfefferspray gegen die DemonstrantInnen eingesetzt. Um 9 Uhr begann der Protestmarsch, bei dem circa 1.500 Studierende und SchülerInnen mitmachten. Etliche SchülerInnen wurden an der Teilnahme gehindert: In einigen Gymnasien, u.a. das Reichwein-Gymnasium, wurden sie einfach eingeschlossen.
Als der Protestzug dann an die Uni Jena gelangte, wartete dort schon die Bereitschaftspolizei auf sie. Einige DemonstrantInnen versuchten, in ihre Hörsäle vorzudringen, wurden jedoch mit "zum Teil robuster Gewalt" zurückgehalten, wie ein Mitglied des Studierendenrates Jena sagt. Dabei ging die Polizei mit Pfefferspray vor, außerdem wurden Personen zu Boden geworfen. Rektor und Kanzler verschanzten sich währenddessen in ihren Büros. Einige Demonstranten kletterten durch die Fenster in die Universität. Etwa eine Viertelstunde wurden sie von der Polizei in der Universität festgehalten; den Demonstranten wurde Strafverfolgung angedroht.
Was die Schüler wollen:
- die Abschaffung des mehrgliedrigen Schulsystems
- mehr Lehrer bei kleineren Klassen
- die Abschaffung des G-8-Abiturs
- ein Ende des Einflusses der Wirtschaft auf die Schulen
Was die Studenten wollen:
- eine soziale Öffnung der Hochschulen durch den Abbau von Zulassungsbeschränkungen, mehr Studienplätze und die Abschaffung von Studiengebühren
- eine Sicherung der finanziellen Unabhängigkeit von Studenten und eine Abkehr von Studienkrediten
- Nachbesserungen bei der Bologna-Reform: Eine Abkehr vom Bachelor als Regelabschluss, weniger Verschulung, Möglichkeiten zu individueller Schwerpunktsetzung im Studium und den Abbau von Hürden beim Hochschulwechsel
- eine Demokratisierung des Bildungssystems durch mehr Mitbestimmung der Studenten in den Hochschulgremien
- die Einführung verfasster Studierendenschaften mit politischem Mandat in allen Bundesländern
- eine Verbesserung der Lehr- und Lernbedingungen durch Aufstockung des Lehrpersonals um 8.000 zusätzliche Professoren, 4.000 Mittelbaustellen und 10.000 Tutoren
- die Beendigung prekärer Beschäftigungsverhältnisse im Bildungsbereich
- die Förderung aller Studenten statt Elitenbildung
Um circa 13 Uhr wurde die Demonstration aufgelöst und der Hörsaal 1 besetzt. Zur Zeit diskutieren etwa 200 Studierende, wie weiter vorgegangen werden soll.
In München wird schon resümiert: Der Streik sei "klasse" gewesen, so eine Studentensprecherin, "man hätte es sich nicht besser vorstellen können." Circa 10.000 Studierende und SchülerInnen zogen zwischen 10 Uhr und halb zwei von der Ludwig-Maximilians-Universität München aus durch die Stadt, vor der Technischen Universität wurde eine Sitzblockade abgehalten. Zu Zwischenfällen kam es nicht. Anschließend wurde im Audimax ein selbst gedrehter, vierminütiger Film gezeigt, ein "Besetzervideo", unterlegt vom "Besetzerlied", das die Uni Wien eigens für den Bildungsstreik komponiert hat. Jetzt folgen noch weitere Veranstaltungen im Audimax der LMU, unter anderem tritt ein bekannter Künstler auf. Wer, wird noch geheim gehalten.
Obwohl die meisten von ihnen vom Regen schon klatschnass waren, haben sich nach der großen Demo noch bis zu 300 junge Menschen vor dem Landtag in Wiesbaden eingefunden. Vor dem Plenarsaal haben sie ihre Parolen skandiert. Weil sie dabei die Bannmeile verletzt haben, drohte kurzzeitig ein Einschreiten der Polizei.
Abgeordnete, die gerade im Plenarsaal tagten, kamen zu den Demonstranten und boten an, mit einer Delegation im Landtag zu diskutieren. Das lehnten die Protestler jedoch ab mit der Begründung, jetzt sei es an den Politikern, einen Schritt auf sie zuzugehen. Einige Mitglieder der Oppositionsparteien und ein FDP-Abgeordneter stellten sich daraufhin der offenen Diskussion vor dem Landtag.
Auch in Wiesbaden wurden die Demonstranten kontinuierlich von der Polizei gefilmt, auch wenn, wie ein Teilnehmer sagte, "eigentlich nichts passiert ist". Nachdem die etwa 300 letzten Protestler mit den Politikern vor dem Landtag diskutiert hatten, dabei aber auf keinen grünen Zweig gekommen sind, wurden sie im Polizeispalier zum Bahnhof geleitet, wo sie jetzt ihren Heimweg antreten.
Während der Aktionen ist angeblich auch ein 14-jähriges Mädchen wegen Sachbeschädigung festgenommen worden, befindet sich aber nun wieder auf freiem Fuß.
In Köln ist die Demonstration gerade zu Ende gegangen. Um 9 Uhr haben sich die SchülerInnen getroffen, um halb zehn kamen dann die Studierenden dazu. Weil es während des gesamten Protestmarschs ziemlich regnete, sind viele TeilnehmerInnen nicht die ganze Strecke mitgelaufen.
Der Rektor des Friedrich-Wilhelm-Gymnasiums in Köln wollte nicht, dass seine SchülerInnen an der Demo teilnehmen. Deswegen hat er die Schule abgeschlossen. Wer trotzdem nicht zum Unterricht kam, bekam einen unentschuldigten Fehltag.
Der Demonstrationszug, an dem circa 5.000 SchülerInnen und Studierende teilgenommen haben, hat besonders vor der Schule lange und laut protestiert.
In Freiburg hat bereits gestern Abend der Aktionstag mit einer Übernachtung in der besetzten Uni begonnen. Anfangs waren 900 Studierende beteiligt und haben an Podiumsdiskussionen teilgenommen, letztendlich haben bis zu 1.100 ihre Nacht dort verbracht.
Bis zu 6.000 Studierende marschierten heute dort durch die Innenstadt und sind nun wieder an der Uni, um ihre Besetzung fortzusetzen.
Bereits im Juni beim ersten Bildungsstreik in Freiburg gab es Ärger mit der Polizei, die die Demonstranten konsequent gefilmt haben. Für die heutige Demonstration wies das Bündnis Bildungsstreik vehement darauf hin, dies zu unterlassen, da es sich um eine friedliche Protestaktion handle.
Wie ein Sprecher der u-asta Freiburg berichtet, warteten aber auch heute neben uniformierten Beamten jede Menge Zivilpolizisten und Beamten im Staatsschutz auf. Wiederum wurden die DemonstrantInnen gefilmt. Nachdem die Teilnehmer der Demo sich darüber beschwerten und eine Anti-Repressions-Demo in den nächsten 48 Stunden ankündigten, packten die Polizisten jedoch nach und nach ihre Kameras wieder ein, so der u-asta-Sprecher.
In Essen sind 150 Protestierende, darunter überwiegend SchülerInnen, festgenommen worden. Vorher wurden sie eine Stunde eingekesselt. Zwischen 2.500 und 3.000 SchülerInnen waren seit halb zehn durch die Stadt gezogen, ab halb elf kamen noch circa 1.000 Studierende dazu. Um kurz vor eins wurde die Demo aufgelöst. Wie ein Sprecher der Asta Essen erklärte, fehlte es an einer "vernünftigen Demonstrationsleitung". Daraufhin fanden sich mehrere Gruppen zu Spontandemonstrationen zusammen, welche die Polizei bald wieder auflöste. Eine Gruppe versammelte sich vor dem Rathaus und blieb dort eine Stunde. Der Rathausplatz ist mit dem Einkaufszentrum überdacht, daher verstößt das nicht gegen das Recht zur Versammlungsfreiheit unter freiem Himmel. Trotzdem schritt gegen 15 Uhr die Polizei ein und transportierte die 150 Studierenden und SchülerInnen ab, angeblich wegen "Hausfriedensbruchs".
In Hamburg gab es kaum Protest: Nur 500 Studierende und SchülerInnen
gingen auf die Straße.
Hier gibt es einen Live-Stream aus Münster.
In Flensburg treffen sich die heute die Asten aus ganz Schleswig-Holstein zu einer Versammlung.
In Kiel wird erst morgen demonstriert. Der Grund dafür: Morgen tagt der Landtag zum ersten Mal, die Teilnehmer wollen "ihre Belange direkt vor die Tür" der Verantwortlichen tragen.
Am 18.11. findet dort ab 10.30 Uhr ein Protestmarsch statt, der am Rathausplatz beginnt, um 12 Uhr ist eine Zwischenkundgebung an der Uni geplant, dann gehts weiter zum Landeshaus.
Demos im Ausland
Auch über die Grenzen hinaus wurde mitdemonstriert. Als Teil der "Global Week of Action" fanden u.a. in Italien (150.000 Menschen in über 50 Städten) in Österreich, in Frankreich (in über 20 Städten), in der Schweiz und in Polen Kundgebungen, Demonstrationen und Schulblockaden statt.
In Wien gab es um 15 Uhr eine Kundgebung, jetzt findet auf dem Schwarzenbergplatz eine Abschlusskundgebung mit Musik statt, an der circa 3.000 Menschen teilnehmen.
in Innsbruck wurde massenweise Walzer getanzt, in Linz wird ein Wettpaddeln veranstaltet, in Graz wurden ProfessorInnen versteigert.
Im Gegensatz zu Deutschland lief der Aktionstag in Österreich friedlich ab.
JAN MOHNHAUPT, FRANZISKA LANGHAMMER, GORDON REPINSKI, FRANZISKA SEYBOLDT
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